Vor 65 Jahren veröffentlichte J.D. Salinger «Der Fänger im Roggen», danach entzog sich der Autor der Welt. Zurück blieb seine Figur Holden Caulfield. Und die hilft seither Generationen von Jugendlichen, sich in Weltekel zu üben.
Der Autor ist ein Mythos, das Buch ist keiner. Vor 65 Jahren konnte man, drüben in Amerika zumindest, erstmals von Holden Caulfields knapp 48 Stunden vor Weihnachten lesen, in denen der 17-Jährige durch New York stapft, in abgerissenen Hotels übernachtet, Taxifahrer nervt und sich im Weltekel suhlt.
Wer einmal, etwa im selben Alter wie Caulfield, für den Englischunterricht eine Literaturliste zusammenstellen musste, kam um den «Fänger im Roggen» nicht herum. Und wer ihn gelesen hat, kam nicht mehr von ihm los: Coming of Age, Teen-Angst, jugendlicher Weltschmerz – Holden Caulfield hat es vorgelebt. Denn, bei Gott, es hat sich nichts geändert seit 1951. Sex bleibt kompliziert, die Leistungsanstalt Schule eine Last, und Scheinheiligkeit erdrückt die Welt.
Helden wie Holden brauchte die Jugend, braucht sie immer wieder: Nicht wagemutige Abenteurer auf dem Weg ins Ungewisse wie Kerouacs Dean Moriarty, dem «on the road» die grössten Verheissungen offenstanden und der somit die Erbärmlichkeit unseres Daseins aufzeigte. Und auch nicht radikale Rebellen wie Plenzdorfs leidender W., der letztlich nur eine Kunstfigur aus Goethes Werther und Caulfield war.
Nein, Holden Caulfield war unser Mann, weil er über die Deppen schnödete, sein Aussenseitertum stilisierte und romantisiert hochtrabenden Illusionen nachhing, aus denen dann sowieso nichts werden konnte. Und weil er – man solls nicht leugnen – als Teenager in Bars abhängen, Taxi fahren und Huren bestellen konnte.
Dann halt medioker
All das macht Holden Caulfield zu einer Identifikationsfigur – nicht aus Sehnsucht, sondern aus Einsicht. (Tragische Ausnahme: Mark Chapman. Der Amerikaner las aus dem Buch die Aufforderung heraus, eine Berühmtheit zu töten – und erschoss John Lennon.) Es gibt kein übergeordnetes Ideal, keine Meta-Ebene, keine Versuchung, daraus einen Generationenroman zu ersinnen. Am Ende holt ihn keine Vision aus der Larmoyanz, und keine Katharsis öffnet ihm die Augen, sondern er findet einen Rank, sich mit der Unabwendbarkeit der Mediokrität, als die sich das Leben in der Regel offenbart, zu versöhnen.
Das passiert im Moment, als er seiner zehnjährigen Schwester Phoebe zuschaut, wie sie auf einem Karussellpferd versucht, einen goldenen Ring zu erwischen. Und sich daran freut, wie sie in ihrem blauen Mantel im Kreis fährt – da ist er «so verflucht glücklich», dass er heulen könnte.
In diesem Moment wähnt sich Caulfield nicht mehr als ein «Fänger im Roggen», der Kinder davon abhalten will, im hohen Getreidefeld in die Schlucht zu stürzen. «Wenn sie runterfallen, dann fallen sie eben in Gottes Namen.» Am Kleinen sich erfreuen, um vom Grossen zu lassen – Caulfields Läuterung, wenn sie eine sein soll, vollzieht sich im Friedensschluss mit der Welt. Nicht der schlechteste Weg, in ihr zurechtzukommen.
Salinger, der Eigenbrötler
J.D. Salingers Jahrhundertroman steht auch deswegen wie ein Monolith in der Literaturgeschichte, weil er sein einziger Roman bleib – und weil sich der Autor, anders als mutmasslich seine Figur, tatsächlich vollständig aus der Welt zurückzog. Als «The Catcher in the Rye» 1951 erschien, war Salinger 32 Jahre alt. Zwei Jahre später zog er in ein Haus im Wald von New Hampshire, 1965 erschien seine letzte Kurzgeschichte, seither – nichts.
2010 verstarb Salinger im Alter von 91 Jahren, Gerüchte um fertige Romanmanuskripte, die er über Jahre für das eigene Vergnügen und die Schublade geschrieben haben soll, sind seither nie verstummt. 2013 erschien ein Dokumentarfilm, der sich Salingers Geheimniskrämerei annahm:
Einer Verfilmung des «Fänger im Roggen» verweigerte sich der Autor Zeit seines Lebens (und darüber hinaus). Weder zum 50. noch zum 60. oder jetzt zum 65. Jahrestag der Erstveröffentlichung gab es grosse Ehrenveranstaltungen, Dokumentationen oder angereicherte Neuausgaben.
Wahrscheinlich trug gerade Salingers Starrsinn zur Alterslosigkeit des jungen Caulfield bei. Wir haben kein Bild von ihm, das ihn in der Mode einer Zeit verankert, und wissen von keinem Leben, in das er sich als Erwachsener hätte eingliedern können. «Manche Sachen sollten so bleiben, wie sie sind», sagt Holden. «Man soll sie in einen grossen Glaskasten stecken und so lassen können. Natürlich ist das unmöglich, das weiss ich.» Salinger ist es gelungen.