Der Faschismus steckt im Dur-Akkord

Ein hochbegabter Musiker im Bademantel setzt sich an den Flügel in der ausverkauften Reithalle. Zwei Stunden später hat Chilly Gonzales uns gelehrt, dass auch über das strahlendste Genie gelacht werden soll.

Meister am Solopiano und genialer Unterhalter dazu: der Kanadier Chilly Gonzales. (Bild: Andy Tobler)

Ein hochbegabter Musiker im Bademantel setzt sich an den Flügel in der ausverkauften Reithalle. Zwei Stunden später hat Chilly Gonzales uns gelehrt, dass auch über das strahlendste Genie gelacht werden soll.

Nur einmal lässt sich auch ein Chilly Gonzales kurz überrumpeln, kurz vor Schluss, als er vom Gemeinschaftsprozess erzählen will, den die Musiziererei auslösen kann. Er fragt, wozu diese Konzerthalle früher gedient habe, was für Töne noch in ihr nachhallen könnten. Die Antwort aus dem Publikum – die bestuhlte Reithalle ist ausverkauft – mag er kaum glauben, auch bei der dritten Wiederholung nicht: die Kaserne war, nun ja, eine Kaserne.

Ein Genie mit Humor

Obschon er uns längst im Sack hat, improvisiert Gonzales auch dazu noch einen Gag in seine Ansage hinein, bevor er sich wieder dem Flügel zuwendet und sein Schlussfurioso zu hämmern beginnt, dass es seinen Bademantel schüttelt und die grässlich grünen Pantoffeln an seinen Füssen zerknautscht. Gonzales ist ein selbsterklärtes musikalisches Genie, das die Erscheinung des Genialischen ununterbrochen karikiert. Aber er ist, als Kanadier mit langen Jahren in Deutschland und einer Klavierausbildung von Jazz bis Klassik, auch ein Bildungsbürger, der seine Musik nicht nur spielen und sich an ihr laben, sondern sie auch vermitteln will.

Zum Beispiel den Unterscheid von Dur und Moll. Dur, das ist die Tonart der Monarchien, der Konservativen, der Wenigen, die alles haben und mit falsch überdrehtem Optimismus diese Verhältnisse bewahren wollen. «Da hört man schon den Faschismus reintröpfeln», sagt er und. Das Tonbeispiel, schnittig angeschlagen, überzeugt. Moll hingegen gehört den Entrechteten, den Aufbegehrenden, den Melancholikern. Als Beweis spielt er «Bruder Jakob», in Moll transponiert, und das Kinderlied erhält eine zutiefst traurige Note. «Bruder Jakob schläft nicht mehr, Bruder Jakob ist tot», bellt Gonzales.

Der Mann kann grossartig unterhalten, weil es ihm so ernst ist mit der Freude.

Das klingt nach Kulturkritik als Strukturkritik, und Gonzales meint es durchaus ernst mit der Empathie für die Musik, dafür hat er sie weitläufig genug umkreist. «Solo Piano II» heisst sein aktuelles, zweites Klavieralbum, sehr schwelgerisch und harmonieverliebt im Ausdruck, aber nur begrenzt ausreichend für seine Bühnenperformance. Denn Gonzales hat ein Faible für den Pop, er half in der kanadischen Heimat die Karriere der Landsfrau Feist zu lancieren und schrieb Klavierarrangements für das französische House-Duo Daft Punkt. Zusammen mit Peaches rappte er zudem über groben Elektro. Ein musikalischer Eklektiker also, und dass sich die verschiedenen Stränge zusammenknüpfen lassen, zeigt er auch in der Kaserne, indem er über einen 6/8-Rhythmus am Klavier zu rappen beginnt. Diese Abbrucharbeiten an den Trennmauern von Hoch- und Popkultur verrichtet der 40-Jährige mit einer ansteckenden Lust. Der Mann kann grossartig unterhalten, weil es ihm so ernst ist mit der Freude.

Zweimal holt er Besucher auf die Bühne, denen er beibringen will, wie schnell ein einfacher Hit gebastelt ist, wie er ihn selbst vor zwei Jahren mit «Never Stops» hatte. Eine Kurzmelodie aus drei Noten, die durch die iPad-Werbung von Apple weltberühmt wurde. Ebenfalls drei Töne soll der Kurzzeitschüler spielen, einmal rauf, einmal runter, während Gonzales dazu in den tiefen Lagen die Begleitungsvariationen entfesselt und den Schüler sofort mitreisst. Wechsel zu Moll, Oktavierung, Sprung zwischen den Tonarten. Funktioniert alles sofort, und der Meister kann sich kaum halten vor Entzücken. Man kann was lernen von diesem Mann, nicht nur über die Funktionsweise von Musik und wie das alles zusammenhängt, der Rap mit dem Soul, die Kunst mit der Macht und der obsessive Anerkennungsdrang des Künstlers mit der Furcht vor dem Publikum. Sondern auch darüber, dass die grosse Kunst, der er sich zurechnet, nichts von ihrem Gehalt verliert, wenn man zu ihr hinauf lachen kann. «Entertainment ist Krieg», sagte Chilly Gonzales einmal. Am Ende trägt er die Fahnen heim.

 

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