Der getriebene Prophet aus Jamaika

Bob Marley würde 70, aus diesem Anlass empfehlen wir einen Heimkinoabend. Der Dokumentarfilm von Kevin Macdonald gibt tiefe Einblicke in das bewegte und bewegende Leben des jamaikanischen Sängers.

Gläubiger Anhänger der Rastafari-Bewegung: Lange Dreadlocks und grosse Joints wurden nebst der Musik zu seinem Markenzeichen. (Bild: Ascot Elite/zVg)

Bob Marley würde 70, aus diesem Anlass empfehlen wir einen Heimkinoabend. Der Dokumentarfilm von Kevin Macdonald gibt tiefe Einblicke in das bewegte und bewegende Leben des jamaikanischen Sängers.

Man glaubt, schon viel zu wissen über Bob Marley. Geht ins Kino. Sieht 144 Minuten lang bewegte Bilder, hört Stimmen, inhaliert Songs. Und reibt sich danach erstaunt Augen und Ohren. Was haben all die Bücher, die über ihn erschienen sind, gebracht, wenn sich unsereiner nicht einmal mehr bewusst war, dass Bob Marleys Vater ein Weisser war? Ein britischer Aufseher, der in den fruchtbaren Hügeln des Kolonialstaats Jamaika eine Einheimische kennenlernte, schwängerte und sie ihrem Schicksal überliess?

Ihr Kind, Robert Nesta Marley, erblickte 1945 das Licht einer Welt, die zunächst nicht auf ihn gewartet zu haben schien: gross die Armut, gross auch die Schüchternheit des Jungen, der sich viele Jahre wie ein Fremdkörper vorkam: «Er wurde abgelehnt, weil er ein Mischling war», erinnert sich Bunny Wailer, Jugendfreund und musikalischer Wegbegleiter im Dokumentarfilm «Marley».

Universal und unsterblich

30 Jahre nach dem Tod des Reggae-Weltstars – Marley starb 36-jährig an Krebs – hat sich der Schotte Kevin Macdonald nach Jamaika aufgemacht, um mit Zeitzeugen zu reden und im Familienarchiv zu stöbern. Das historische Interesse des Filmemachers manifestierte sich bereits in seinen zwei grössten, oscargekrönten Erfolgen: «One Day in September» (Arthur Cohns Produktion über den Terror an den Olympischen Spielen in München) und «The Last King of Scotland». Darin dirigierte Macdonald 2006 den Schauspieler Forest Whitaker durch das Leben des ugandischen Diktators Idi Amin.

Bei den Dreharbeiten in Zentralafrika sei ihm damals aufgefallen, wie unsterblich Bob Marley fernab seiner Heimat ist, lässt der Regisseur verlauten. Konterfeis und Sprüche wie «Get up, stand up for your rights» seien auf den Strassen Ugandas allgegenwärtig. Wie kam es, dass ein Jamaikaner mit seiner Musik, seinen Texten die Welt eroberte? Was trieb Bob Marley an, unterlegt von karibischen Rhythmen eine universale Botschaft zu vermitteln?

Slum und Selassie

Diesen Fragen ist Macdonald nachgegangen. Umfassend und eindrücklich zeigt er auf, wie Marley, ausgegrenzt und arm, aber reich an musikalischem Talent, in der Rastafari-Bewegung Geborgenheit und Akzeptanz fand – «und sich selber», wie Witwe Rita erzählt. Mit 18 Jahren liess er sich im Slum von Trenchtown Dreadlocks wachsen, himmelte Haile Selassie wie einen Vater an und betrachtete Afrika fortan als seine symbolische Heimat. Ein getriebener, rastloser (vier Stunden Schlaf reichten ihm) und ehrgeiziger Mann machte sich auf, «One Love» unter die Leute zu bringen.

Obschon der Prophet im eigenen Land bald Gehör fand und mit seinen Wailers erste Hits verbuchen konnte, kam Marley viele Jahre nicht recht vom Fleck: Die Plattenindustrie in Jamaika bootete ihn aus, die Unzufriedenheit führte ihn nach London, wo Chris Blackwell (Island Records) die kommerziellen Geschicke in die Hand nahm. Dies wiederum spaltete die Band, wie ein Tondokument des Mitmusikers Peter Tosh verdeutlicht, der Blackwell abschätzig «Whitewell» nennt. Tosh stieg aus, um sich auf den Heimmarkt zu konzentrieren, weitere folgten. Marley setzte seine Mission fort, mit beseeltem Gesang, tranceartigen Auftritten und tiefgläubigen Texten eine Brücke zwischen Rassen und Kontinenten zu schlagen – nicht ohne Tiefschläge hinnehmen zu müssen.

Mordanschlag und Mission

1976 geriet er erneut zwischen die Fronten, als er ganz oben angekommen war, sein Land aber tief unten, in der Misere, gebeutelt von Kriminalität und Machtspielen der Linken und Rechten: Marley, der Vermittler, wurde 1976 Ziel eines politisch motivierten Mordanschlags – und stellte sich kurz darauf furchtlos auf eine Bühne in Kingston, um das Land zu einen.

Doch so sehr der charismatische Mann, der todkrank selbst die Pflegerin einer bayrischen Krebsklinik nachhaltig beeindruckte, Menschen zusammenbrachte – Macdonald zeigt auch auf, dass dies einen Preis hatte: Die Familie musste ihn teilen, Rita mit anderen Frauen, die Kinder (elf die offizielle Zahl) mit Fans und Freunden. Die musikalische Karriere, die grosse Mission stand über allem. Die unausgesprochene Erkenntnis am Ende des berührenden Films: Haile Selassie mag für den Botschafter die Reinkarnation verkörpert haben. Bob Marley selber aber ist der unsterbliche Auserwählte. One Love.

Noch mehr Reggae fürs Heimkino

   1. The Harder They Come (1972)

  Junger Kerl will Musiker sein, wird aber Gangster:
  Der erste jamaikanische Filmerfolg trug durch
  den Hauptdarsteller Jimmy Cliff den Reggae
  in die Welt hinaus. Grosser Klassiker.

 

   2. Peter Tosh: Stepping Razor (1992)

  Kein filmisches Meisterwerk, aber ein
  wichtiges Stück Zeitgeschichte: Der Dok-Film
  beleuchtet das Leben von Bob Marleys militantem
  Wegbegleiter Peter Tosh, der 1987 ermordet wurde. 

 

   3. Rocksteady (2009)

   Der Schweizer Filmemacher Stascha Bader hat in Jamaika
   vergessene Musiklegenden aufgespürt.
   Sein Film, eine Art Buena Vista Reggae Club, ist eine
   rührende Hommage an die Pioniere von Ska, Rocksteady und Reggae.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 04.05.12

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