Yann Marussichs Performance «Glassed» sorgte bei der Präsentation auf der Kleinen Bühne des Theater Basels bei manchem Zuschauer spürbar für Irritation – erwies sich aber gerade im Spiel mit den Emotionen des Publikums als einer der Höhepunkte der «Schweizer Tanztage».
Yann Marussich macht keine halben Sachen. Weil der Genfer Gründer des ADC Studio nichts (Neues) mehr mit Bewegung ausdrücken konnte, hat er vor einem Jahrzehnt konsequent seine Tänzerkarriere beendet. Seither lässt er als Performance-Künstler seinen Körper meist beinahe regungslos als Interaktionsfläche wirken, indem er ihn verschiedenen Grenzerfahrungen aussetzt – so etwa bei «Bleu Remix», wo er seine Körperflüssigkeiten mittels eines biochemischen Verfahrens blau einfärbte, und damit blaue Flüssigkeit aus seinem Leib strömen liess.
Auch auf der Kleinen Bühne des Theater Basel zeigt er eine Arbeit, die in ihrer Radikalität seinesgleichen sucht: denn die seit Wochen ausverkaufte Vorstellung seines neusten Experiments «Glassed» hat zumindest auf den ersten Blick nichts mit anderen Vorstellungen der «Schweizer Tanztage» gemeinsam. Die Zuschauer betreten die Bühne, und müssen sich selbst im Raum gruppieren, bevor sich der grün leuchtende Kubus in der Mitte des Raumes in aufreizender Langsamkeit hebt.
Darunter kommt der Künstler zum Vorschein, der eine bis zum Scheitel gefüllt Halskrause voller Glasscherben trägt: 25 Kilo sollen es sein, eine in Menge und Gewicht also potentiell tödliche Anzahl gebrochenen Glases, die nur an wenigen Fäden an der Decke befestigt ist. Im Laufe der knapp 45-minütigen Performance versucht Yann Marussich, sich möglichst kontrolliert und ohne ernsthafte Verletzungen dieser Menge an Scherben zu entledigen.
Körperliche Vibrationen
Begleitet wird er dabei von der Live-«Musik» von Franz Treichler, als Kopf der Young Gods einer der einflussreichsten Künstler der jüngeren Schweizer Musikgeschichte, welche sich als Mix aus Ambient und Industrial zumeist auf Drones, Flächen und Rauschen, hin und wieder auf unhörbare, nur körperlich spürbare Bass-Vibrationen beschränkt und damit die bereits schwer auszuhaltende Intensität der Darbietung noch unterstreicht.
Oft steht Marussich dabei minutenlang im Raum und versucht mittels vollständiger Körperbeherrschung die perfekt ausbalancierte Position zu finden, um einen weiteren Schwall von Scherben auf den Bühnenboden zu giessen. Dass sein Gesicht dabei trotz der intensiven Anspannung seines in einen edlen Massanzug gekleideten Körpers über weite Strecken der Performance unsichtbar bleibt, lässt seine Performance starke Symbolkraft entwickeln und im Kopf der Zuschauer vielfältige Assoziationsketten entstehen: Worum geht es hier, worauf spielt der Künstler an? Auf den im virtuellen Zeitalter von totaler Transparenz bedrohten, gläsernen Menschen? Auf die Banker der globalen Finanzkrise, deren riskantes Verhalten einen Scherbenhaufen hinterliess? Oder gar auf entmenschlichende Folter, wie sie im Irak und Guantanamo praktiziert wurde, wo Gefangenen ebenfalls entmenschlichende Behälter über den Kopf gesteckt wurden? Oder schlicht auf den Mythos des menschlichen Daseins als Mixtur aus zerbrechlichem «Glück und Glas»?
Pure Intensität
Als sein Gesicht nach und nach hustend, schwitzend und von der Performance gezeichnet sichtbar wird, und sich Marussich gleichzeitig seiner Kleider entledigt, während das Licht unbarmherzig seinen Körper ausleuchtet, transportiert sich der Akt auf eine neue Ebene: Hier steht vor dem Publikum einer, der mit an Marina Abramovic gemahnender Strenge seinen Körper durch die Zufügung von Schmerz in ein Plateau der Intensität verwandelt, in eine Immanenzebene, wo Intensitäten in purer, reiner Form zirkulieren können, während der Zuschauer plötzlich zum Voyeur seines Leides mutiert.
Am Ende der Performance legt sich der erschöpfte Künstler nackt auf das entstandene Feld der Scherben, während sich der Kubus wiederum in Zeitlupe über ihn senkt. Dies geschieht in derart aufreizender Langsamkeit, dass spätestens jetzt das Gros des Publikums den Saal ohne Applaus verlässt. (Bereits zuvor haben etwa ein Drittel der Zuschauer den Raum teils merklich verstört, teils fast empört verlassen.)
Messianische Züge
Erst als der letzte Anwesende den Saal verlassen hat, senkt sich der Kubus vollends – und gibt nun den ganzen Blick frei auf die Performance, die von Anfang an entscheidend mit und durch die Erwartungen und Eindrücke seiner Beobachter entstand, welche davon abhängt, wie lange diese gewillt sind, dem Spektakel beizuwohnen. Die Bereitschaft, den eigenen Körper komplett in ein Symbol zu wandeln, nimmt nun bei Marussich eindeutig tranzendentale, messianische Züge an: Schwer vorstellbar, eine noch radikalere Fassung zeitgenössischen «Tanzes», verstanden als Zurschaustellung des eigenen Körpers im Dienste der Kunst, zu erleben.
All dies setzt beim Besucher nach dem Verlassen der Bühne wiederum plötzlich ungeahnte Gefühle frei: Erleichterung, Heiterkeit, ja: Euphorie angesichts der Tatsache, diese aufwühlende Auseinandersetzung, die potentiell hätte eskalieren und in grosses Leid münden können, «heil» überstanden zu haben.
Tanz als kathartische Erfahrung zu inszenieren, dafür gebührt Marussich grosser Respekt: Denn angesichts der heutzutage omnipräsenten Überflutung mit Eindrücken und Informationen schafft er es mit minimalen Mitteln beim Publikum eine unglaubliche Dichte an Gedanken und Gefühlen auszulösen.
Dass die «Tanztage» eine solch grenzgängerische Performance ins Programm mitaufnehmen, beweist ausserdem, dass das vorangestellte Adjektiv «zeitgenössisch» alles andere als schmückendes Beiwerk ist: Auch hier werden keine halben Sachen gemacht.