Heute vor 200 Jahren starb Marquis de Sade, der grosse Triebtäter der Literaturgeschichte, in einer Irrenanstalt. Seine Verherrlichung der Gewalt zielt auf die Scheinheiligkeit der Aufklärung.
«Justine» ist vor über 200 Jahren erschienen, aber leichter ist die Kost nicht geworden. Zwei Zwillingsmädchen werden aus einem Nonnenkloster geworfen. Die eine, Juliette, verdient sich als Prostituierte schnellen Reichtum, die andere, Justine, wählt den Pfad der Tugend. Und muss dafür leiden: Wo sie vom Schicksal hingeworfen wird, erfährt sie Folter, Vergewaltigung, Grausamkeit, Ausbeutung.
«Ruchlosigkeit» ist das Wort, das in den deutschen Übersetzungen am häufigsten die Anklage gegen sie umfasst – eine Bosheit, die nicht hauptsächlich den materiellen Gewinn sucht, kein schlechtes Gewissen kennt und desto grössere Lust an der Qual anderer empfindet, je unbescholtener die Opfer sind. Möglichst jung und unschuldig, möglichst naiv und tugendhaft. Wie Justine.
Als l’art pour l’art wird hier eine Gewaltobsession stilisiert, deren Täter sich zu immer virtuoseren Folterpraktiken inspirieren lassen, zu brutalen Exzessen, die keinen anderen Zweck kennen als die eigene Entzückung. Für Justine gibt es kein Entrinnen, keinen Trost. Selbst der Himmel spottet über ihre Marter: Als sie am Ende eines kurzen, geschundenen Lebens die Schwester wieder trifft und sie Bilanz ziehen, wird Justine von einem Blitzschlag ausgelöscht.
Marquis’ de Sade «Justine» in einer Ausgabe von 1950. (Bild: akg)
In der Gewaltverherrlichung steckt Kritik
Der das geschrieben hat, war bereits zu Lebzeiten ein Verfemter: Der König liess ihn wegen Verstössen gegen die Sittlichkeit, die auch zur Zeit des Ancien Régimes jenseits des Tolerablen lagen, einkerkern. Die französischen Revolutionäre wollten ihm den Kopf abschlagen, einzig der Tod Robespierres rettete ihn. Napoleon liess ihn schliesslich die letzten 13 Jahre seines Lebens einsperren: Marquis Donatien Alphonse François de Sade. In der Haft schrieb de Sade die bekanntesten seiner Schriften, darunter «Die 120 Tage von Sodom» (verfilmt von Pier Paolo Pasolini), vor allem aber die Schwesternschriften «Justine» und «Juliette».
Dank ihnen gilt de Sade als Ahnherr des Sadismus, dabei waren die Bücher mehr als ausufernde Gewaltfantasien. Der Untertitel «Vom Missgeschick der Tugend» verrät bereits, in welche Richtung die brachiale Brutalität von «Justine» zielt: auf die hehren Normative der Moral, die in der Aufklärung neue ideelle Höhen erreichten, während in der Realität umso rabiater gefoltert, gemordet und geschändet wurde.
Trotz Aufklärung – der Mensch bleibt des Menschen Wolf
Dass sowohl der Adel wie die Würdenträger der Kirche und danach die Richter der Revolution sich an ihr hemmungslos besoffen und zu exzessiverer Gewalt fähig waren als die dumpfe Niedertracht des Pöbels, war de Sade nicht entgangen. Er war jedoch auch Atheist genug, um jegliche Jenseitserlösung zu verwerfen. Der Mensch ist des Menschen Wolf, er frisst, was er fressen kann, und weder ein übermächtiger Leviathan noch die dünne Kruste der Zivilisation wird ihm dies austreiben können.
De Sade war der zeitgeschichtliche Anti-Kant, der Freiheit als Freiheit zur Unterwerfung radikalisierte. Er gab vermeintlich errungene moralische Standards wie Menschenwürde und Naturrecht der Lächerlichkeit preis und führte, lange vor Freud, das tiefenpsychologische Triebgegensatzpaar Eros und Thanatos ein, in dem der Todestrieb sich als Zerstörungslust gegen andere Menschen richtet.
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und der fortschreitenden sexuellen Enttabuisierung entfaltete er schliesslich eine popkulturelle Sogwirkung: Weder die domestizierten Unterwerfungsfantasien von «50 Shades of Grey» noch die verlängerte Visualisierung ins Kino als Torture Porn wären ohne ihn denkbar. Kein Skandal, den de Sade nicht bereits durchgestanden, keine monströse Zerstörungslust, die er nicht ersonnen hätte, der grosse Triebtäter der Literaturgeschichte.
Seine Folterpornografie ist Literatur, aber der Marquis war deswegen nicht nur im Kämmerchen aktiv. Er frönte gotteslästerlichen Sexualpraktiken und Orgien, in denen er sein Gesinde misshandelte, er entführte und entehrte seine blutjunge Schwägerin und machte Frauen durch Betäubungsmittel gefügig.
Seine letzten 13 Jahre verbrachte de Sade in einem Sanatorium, wo er am 2. Dezember 1814 im Alter von 74 Jahren starb. Der Spielfilm «Quills» mit Geoffrey Rush in der Hauptrolle handelt davon. Der Historiker Volker Reinhardt von der Universität Fribourg hat zum 200. Todestag von de Sade eine neue Biografie des französischen Adligen geschrieben.
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Volker Reinhardt: «De Sade oder die Vermessung des Bösen», Beck, 464 Seiten.