Der Mief des Vorhersehbaren

Der Debütroman der Engländerin Francesca Segal zeigt einen jungen jüdischen Londoner, zerrissen zwischen dem Bedürfnis nach gesellschaftlicher Zugehörigkeit und dem Wunsch nach individueller Freiheit. Das Thema überzeugt, die Aufarbeitung nicht bei allem.

(Bild: Alicia Savage)

Der Debütroman der Engländerin Francesca Segal zeigt einen jungen jüdischen Londoner, zerrissen zwischen dem Bedürfnis nach gesellschaftlicher Zugehörigkeit und dem Wunsch nach individueller Freiheit. Das Thema überzeugt, die Aufarbeitung nicht bei allem.

«Die jüdische Gemeinde war eine Arche Noah, in der man am besten paarweise auftrat», heisst es in Francesca Segals Debutroman «Die Arglosen» einmal. Der Protagonist Adam Newman hat sich diese Tatsache zu Herzen genommen und sich soeben mit Rachel verlobt, mit der er seit seinem 16. Lebensjahr zusammen ist und in deren Augen er schon damals hatte, «das Leben ablesen können, das er mit fünfzig an ihrer Seite führen würde.» Der Traumschwiegersohn arbeitet in der Wirtschafskanzlei seines Schwiegervaters und gibt seiner Schwiegermutter die Gelegenheit, die Hochzeit zu organisieren, die sie seit 28 Jahren plant: «In dem Moment, als sie erfahren hat, dass es ein Mädchen wird, hat sie das Catering bestellt.»


Francesca Segal: «Die Arglosen»
. Roman. Aus dem Englischen von Verena Kilchling. Kein & Aber. Zürich. 432 Seiten. Fr. 26.90. Zur Leseprobe (pdf-Format). ISBN: 978-3-0369-5675-6

Die Hochzeitsvorbereitungen sind in vollem Gange, als Rachels Cousine Ellie auftaucht und Adams sauber aufgegleiste Zukunft aus der Bahn zu werfen droht. Ellie ist in New York wegen ihrer Mitwirkung in einem «Schmuddelfilmchen» von der Uni geflogen. Sie nimmt Drogen, raucht, ritzt sich die Unterarme und wird von der Ehefrau ihres Millionär-Liebhabers mit einem Gerichtsprozess bedroht. Sie ist aber auch wohltuend weltoffen und unabhängig. Adam fühlt sich für sie verantwortlich und von ihr angezogen, will sie beschützen und berühren und hat doch immer gemeint, Rachel sei die einzige Frau für ihn. Die Begegnung mit Ellie führt ihm vor Augen, dass die Welt ein riesiger Raum ist, und dass er sein ganzes bisheriges Leben in einer kleinen Ecke davon verbracht hat.

Ein Rewriting von Edith Wharton

Im berühmten, von Martin Scorsese verfilmten Roman «Zeit der Unschuld» der Amerikanerin Edith Wharton stellt ein New Yorker Anwalt Ende des 19. Jahrhunderts wegen einer skandalumwitterten Gräfin seine Verlobung aufs Spiel und beginnt die Werte der High-Society zu hinterfragen, in der er sich bewegt (mehr zum Plot auf der Rückseite). «Die Arglosen» ist ein Rewriting von Whartons Werk – der deutsche Titel verwischt im Unterschied zum Originaltitel den Bezug zur Vorlage. Segal verlegt die Geschichte von der snobben New Yorker Oberschicht um 1870 in die ähnlich elitäre, wohlhabende jüdische Mittelschicht im Nordwesten Londons am Anfang des 21. Jahrhunderts.

Segals Protagonist muss einsehen, dass der Preis für die Sicherheit «der Mief des Vorhersehbaren» ist.

Die Übertragung ist geschickt gemacht. Mit scharfem Blick und viel Humor zeichnet die 33-jährige Autorin die klaustrophobische Welt der jüdischen Gemeinde, in der alle immer «wie eine sich schlängelnde, genau vorherbestimmte Polonaise durch jeden Fixpunkt, jeden Anlass, jede Feierlichkeit stapfen». Adam sieht die immer gleichen Gäste an den immer gleichen Festen mit dem immer gleichen Essen und im Urlaub am Roten Meer dieselben Gesichter, «denen er sonst im Umkreis der nördlichen U-Bahnstationen der Northern Line begegnete.»

Segal zeigt aber auch den Nutzen einer solchen Gemeinschaft: «die positive Kehrseite von ständiger Einmischung war bedingungslose Unterstützung». Sie vermittelt die Ruhe klarer Abläufe und das tröstliche Gefühl der Zugehörigkeit. Und sie stellt ihren Protagonisten mitten in diese anstrengende Ambivalenz und lässt ihn einsehen, dass der Preis für die Sicherheit «der Mief des Vorhersehbaren» ist. Plötzlich ist Adam nicht mehr sicher, ob er diesen Preis zu zahlen bereit ist.

Handlung ist absehbar

Die Ausgangslage ist gut. Doch der Verlauf der unter anderem mit den Auswirkungen der Wirtschaftskrise, der Hochzeit, einer Fehlgeburt, einer Reise nach Paris und einem Schlaganfall gespickten Handlung ist bereits auf Seite 40 von 430 absehbar. Adams Gefühle durchschaut der Leser lange vor ihm, auch wenn er sie nicht unbedingt nachvollziehen kann. Denn weder die Liebe zur naiven, engstirnigen Rachel noch die Leidenschaft für die chaotische, unberechenbare Ellie leuchten ein. Sie bleiben Behauptungen – nicht zuletzt wegen der eher hölzernen Beschreibungen der Frauen und Adams Gefühlen für sie: Rachels Brüste sind «unbekleidet einfach göttlich», Ellies «kecke Brustwarzen nur schwer zu ignorieren», und Ellie schleudert «mit ihren Augen Blitze wie ein vollbusiger, zu klein geratener Zeus».

Wäre der mehrfach ausgezeichnete Roman aus Adams Ich-Perspektive erzählt, könnte man solche stilistischen und psychologischen Unstimmigkeiten und auch die Oberflächlichkeit, mit der vieles beschrieben wird, der Figur zuschreiben. Bei Segals Drittpersonerzähler drängt sich hingegen eher die Vermutung auf, dass dem Roman weitere Überarbeitungen literarisch gut getan hätten. Das ist schade. Denn der Stoff interessiert. Der Konflikt zwischen Geborgenheit und Ausbruch, Konformität und Selbstverwirklichung ist weit über die jüdische Gemeinde in London hinaus relevant.

Artikelgeschichte

Der Plot von Edith Whartons Roman:

New York in den 1870ern: Anwalt Newland Archer ist verlobt mit der hübschen, naiven May Welland, einer standesgemäßen Partie. Er beginnt sein geplantes Leben zu hinterfragen, als ihre Cousine, die schöne Gräfin Ellen Olenska, ankommt. Sie hat ihren ausfallend werdenden Ehemann, einen polnischen Grafen, verlassen, was sie in der High-Society zur Aussenseiterin macht und ihre Familie einen offenen Skandal fürchten lässt. Archer verliebt sich leidenschaftlich in die unkonventionelle Ellen und beginnt an der New Yorker Gesellschaft und ihrer Moral und ihren Ansichten zu zweifeln. Dementsprechend hadert er mit der Aussicht auf eine leidenschaftslose Ehe mit May und mit seinem Leben in einem erstarrten gesellschaftlichen System. Es fehlt ihm jedoch der Mut, seine Verlobung zu lösen und aus der Gesellschaft auszubrechen. Auch nach seiner Eheschliessung mit May hält seine heimliche Liebe zu Ellen Olenska an, woraus sich allerdings nie eine «richtige» Affäre entwickelt. In dem Moment, in dem Archer tatsächlich über einen Ehebruch und ein Verlassen Mays nachdenkt, entzieht sich Ellen ihm: Sie hat noch vor Archer von Mays Schwangerschaft erfahren.

Nächster Artikel