Von Karl May über Pierre Brice zu Reto Schöni. Zum 100. Todestag des grossen deutschen Träumers eine Kindheitsgeschichte.
Reto Schöni ist 56 Jahre alt, er hat ein Häuschen mit Garten am Muttenzer Parkweg, eine Familie und er arbeitet seit 35 Jahren in der Vitaminproduktion – aber was sagt das schon über einen Menschen aus, womit er sein Geld verdient.
Als er sieben Jahre alt war, versank Reto Schöni in einem Kinosessel, und das Schicksal nahm seinen Lauf. Es lief der Abspann von «Der Schatz im Silbersee», und Schöni wollte nicht mehr aufstehen. Unter Vorspiegelung falscher Tatsachen hatte er sich reingeschlichen, Karl May war für Knirpse nicht freigegeben. Der Film blies ihn weg. Nach der Vorführung legte er sich unter den Sitz und wartete, bis das Publikum gewechselt hatte und der Streifen zurückgespult war. Jeden «Winnetou»-Film, sagt er, habe er als Kind 25-mal gesehen «und als Erwachsener nochmals 50-mal».
Heute hat er die ganze Filmserie, die Bücher in allen Ausgaben und Qualitäten, den Marketingtand, alles und mehr, was von und zu Karl May je erdacht wurde, bei sich zu Hause in hohen Glasvitrinen ausgelegt. Manches auch nur im Keller verstaut, wie die lebensgrossen «Bravo»-Starschnitte von Pierre Brice. Sein bewunderter Winnetou-Darsteller. Er wollte sie über der Treppe aufhängen. Seine Frau meinte: Alles hat seine Grenzen.
Pierre Brice hat seinen Preis
Seinem Star ist er trotzdem nahegekommen. Die Autogrammkarten kleben an der Wand: «Für Reto». Schöni brummt vor Stolz. Einem Pierre Brice begegnet man nicht zufällig. Der gros-se Winnetou kommt nur gegen hohe Gagen an die Conventions, die Fantreffen der Karl-May-Jünger, die 50 Jahre nach «Schatz im Silbersee» zu Tausenden herbeipilgern, wenn der Franzose angekündigt ist.
Brice zehrt noch heute von seiner Lebensrolle als Winnetou. Eine andere hat er nie bekommen. Schöni verehrt ihn trotzdem. Oder gerade deshalb. Er zieht eine kolorierte Abbildung hervor. May habe sich Winnetou ganz anders vorgestellt, und doch würde keiner besser passen.
Schöni ist auch nicht nachtragend, er hat ihm auch die späten May-Verfilmungen «Apanatschi» und «Firehand» verziehen. Werkfremde Versuche, um nochmals richtig Geld zu verdienen, mit einem Winnetou, der längst tot war. Gestorben einen der traurigsten Filmtode in «Winnetou 3», als er sich in bedingungsloser Bruderliebe vor Old Shatterhand geworfen und eine Kugel des Erzschurken Rollins abgefangen hatte.
Schöni erinnert sich an den Moment, als er als Bub aus dem Kino trat: «Der Tod machte mich tieftraurig. Ich hatte eine Riesenwut im Bauch.» Rollins-Darsteller Rik Battaglia bezahlte seine Filmtat teuer, die Fans entzogen ihm ihre Zuneigung. Jahrelang wurde er nie um ein Autogramm gebeten. Heute laden sie ihn wieder an die Conventions ein. Schöni hat ihn auch schon getroffen und war verwundert: «Eigentlich ein ganz lieber Kerl.»
Harter Rock statt heulende Indianer
Als Teenager wendete sich Schöni dann erstmals ab. Er war jetzt versessen auf Hardrock, Uriah Heep und Deep Purple waren seine Helden. Mit dem Rock kamen die Mädchen, da war kein Platz für einen Indianer. «Als Hardrocker machte sich das nicht so gut», sagt Schöni, «aber im Innern blieb ich Karl May treu.» Einen Winnetou verlässt man nicht.
Auch als Vater musste er ihn etwas zur Seite schieben, die Kindererziehung hatte Vorrang. Natürlich hat er ihnen vorgelesen und die Filme gezeigt. Jedoch: Sie langweilten sich. Schöni zuckt mit den Schultern: «Ich habe meine Kinder nie zu etwas gezwungen.» Heute sind die Kinder Karl May endgültig entwachsen.
Literaten und Filmfetischisten
Schönis Leidenschaft verdorrte trotzdem nicht; im Jahr 2000 schaffte er sich ein Modem an. «Es war unglaublich, ich gab ‹Winnetou-Fan› in der Google-Suchmaschine ein, und es ratterte nur so runter.» Schöni fand heraus, dass er nicht allein ist. In ganz Europa gab es Fanclubs, Treffen, Sammelbörsen.
Schöni entdeckte, dass es zwei Lager gibt: die Literaten und die Filmfetischisten. Schöni ist beides. Besonders die Literatentreffen stellten sich als anstrengend heraus. «Was bringt das, einen halben Tag lang über Karl Mays angebliche, aber widerlegte Homosexualität zu diskutieren und das nächste Mal immer und immer wieder über seine Straftaten?»
Schöni konzentrierte sich darauf, seine Sammlung zu erweitern. Doch die Flohmärkte leerten sich in den letzten Jahren fast vollständig. Viele Memorabilien werden nun auf Ebay und Ricardo angeboten. Die Anbieter kennen die Marktpreise ganz genau. Das Sammeln macht Schöni so keinen Spass, er will nicht Hunderte Euros für eine seltene Erstausgabe bezahlen.
Kroatien, sieben Jahre lang
Er sammelt auf seine Weise weiter. Seit sieben Jahren fährt er mit drei Fans aus Wien nach Kroatien an die Originalschauplätze. Sie fahren in die Nationalparks entlang der dalmatischen Küste, ins trockene Gebirgsland, das die Kinozuschauer für den Wilden Westen halten sollten.
Einmal war Schöni mit einer organisierten Tour hingefahren. 40, 50 MayFans auf der Suche nach dem richtigen Kamerawinkel. Eine Katastrophe: «Einer lief immer durchs Bild.» Und wenn sie dann irgendwo angelangt waren: 40 Autos am Strassenrand mit aufgedrehtem Radio, die Kassette mit der Titelmelodie von «Winnetou» eingelegt.
Mit den Freunden aus Wien ist es ungleich besser. Sie nehmen sich Zeit, zwei Wochen jeden Mai, um das richtige Setting zu finden, und wenn ein Busch vor dem Felsen steht, wo sich Old Shatterhand verschanzt hatte, kommt auch mal die Säge zum Einsatz. Sie haben ihre Erfahrungen gemacht. «Mittlerweile kennen wir das Geräusch des Jeeps des Forstaufsehers.»
90 Prozent aller Szenen hat er schon festgehalten, 14 volle Ordner mit den Bildern gefüllt. Er hat ein ganzes Filmepos kartografiert. Was kann noch kommen, wenn er mal fertig ist? Beim Durchgehen der Bilder hat Schöni festgestellt, dass es Abweichungen zu den Originalen gibt. Was bleibt ihm also anderes übrig – er muss nochmals von vorne anfangen.
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 30.03.12