Der Sound der Welt

Satanisten-Metal aus Norwegen, Hip-Hop äthiopischer Juden, Queer Rap aus New Orleans: Das Norient Festival zeigt ab 10. Januar in Bern Dokfilme aus den Randgebieten der globalen Popszene. Ein Gespräch mit Norient-Geschäftsführer Thomas Burkhalter über die Weltmusik der Gegenwart.

Little Big. (Bild: unknown)

Satanisten-Metal aus Norwegen, Hip-Hop äthiopischer Juden, Queer Rap aus New Orleans: Das Norient Festival zeigt in der Berner Reitschule Dokfilme aus den Randgebieten der globalen Popszene. Ein Gespräch mit Festivalchef Thomas Burkhalter über Weltmusik und ihre gesellschaftliche Aussagekraft.

2002 hat der Berner Musikethnologe Thomas Burkhalter (39) das Online-Magazin Norient.com aufgebaut, mittlerweile sprechen auch «Die Zeit» oder «The Wire» darüber. Kein Wunder: Nach einer Plattform wie Norient muss man lange suchen. Die Autoren des Magazins – Journalisten, Wissenschaftler, Kulturtätige – horchen in die verschiedensten Ecken der Welt hinein und entdecken einen Sound, der wenig mit einem stereotypisierten Weltmusikbegriff zu tun hat, dafür viel mit Nähe zum Underground. Sie graben die Wurzeln des skandinavischen Black Metal aus, hören der wachsenden Elektroszene in Bangladesh oder im postrevolutionären Ägyptens zu, kompilieren die Rockmusik des Libanon oder erkunden die politische Liedermacher-Szene der «Nueva Canción» in Chile.

Das Festivalprogramm
Zwei Themenblöcke vereint das Norient Musikfilm Festival, die unterschiedlicher nicht sein könnten: Religion und Satanismus, Queer-Rap und Kitsch. Die Dokumentarfilme erzählen von jüdisch-äthiopischen Rappern in Israel, von Black-Metallern aus Norwegen mit Nähe zum Satanismus, von einer erfolgreichen Schlagerpop-Sängerin aus Bulgarien, die für einen erfolglosen Trash-Metal-Gitarristen schwärmt – und von Sissy Bounce, einem Rap-Subgenre aus der homosexuellen Szene von New Orleans. Zur Eröffnung des Festivals, das vom 10.-13. Januar in der Reitschule Bern stattfindet, wird ausserdem das Norient-Buch «Out Of The Absurdity Of Life» vorgestellt.

Der Musik- als Gesellschaftsjournalismus ist das Kerngebiet von Norient geblieben, Burkhalter und sein Team haben die Plattform in den vergangenen Jahren jedoch stetig ausgebaut: Norient tritt als Konzertveranstalter auf, produziert eigene Performances wie «Sonic Traces» 2011, eine Soundcollage zur Schweiz, und veranstaltet kommendes Wochenende zum vierten Mal ein Festival des internationalen Musikfilms (siehe Box). An diesem Festival wird Norient ausserdem erstmals als Buch vorgestellt: «Out Of The Absurdity Of Life» versammelt die prägendsten journalistischen wie wissenschaftlichen Textbeträge der Plattform aus dem vergangenen Jahr. Die Reihe soll jährlich fortgesetzt werden, um die Flüchtigkeit der Medienformen von Norient – Musik, Konzerte, digitale Daten – mit einer «bleibenden Tiefe» zu ergänzen, wie Burkhalter im Interview ausführt.

Herr Burkhalter, Sie führen mit Norient ein hochwertiges Online-Magazin über die Underground-Musik der Welt, ohne wirklich Löhne bezahlen zu können. Wie geht das?

Wir sind ein kleines Kernteam in Bern und Zürich, das den Karren zieht. Aber zu unserem Netzwerk gehören Journalisten, Kulturschaffende, Wissenschaftler aus der ganzen Welt. Die bieten uns ihre Texte als Zweitverwertungen an, dazu veröffentlichen wir auch eigene Geschichten. Wir haben ein höchst begrenztes Budget für das Magazin, verlangen allerdings auch keine Exklusivität. Aber zu Norient gehört mittlerweile eine konstant wachsende Community, der Name ist bekannt. Autoren überlassen uns in der Regel die Texte gerne.

Ihre Autoren sind nicht nur deutschsprachige Journalisten, sondern stammen aus der ganzen Welt. Woher haben Sie die?

Ich habe in Musikethnologie dissertiert. Da habe ich auf verschiedenen Kongressen gemerkt, dass ich nicht der einzige bin, der als Ethnologe an zeitgenössischer Musik und ihrer gesellschaftlichen Kontexte interessiert ist. Ein weit umspannendes Netzwerk entsteht dabei schnell, und für Norient ist uns schon wichtig, dass nicht nur westliche Autoren nach Afrika oder Asien fahren und mit ihren europäischen Hörgewohnheiten etwa über senegalesischen Hip-Hop schreiben. Sondern dass ein senegalesischer Journalist dasselbe für uns tut. Sein Blick ist natürlich auch kein objektiver, aber das gehört zum Rezept von Norient: Viele Blickwinkel sammeln, um ein möglichst umfassendes Bild zu erhalten.

Sie haben es angesprochen: das Genre der Weltmusik ist aufgrund des eurozentristischen Blicks und dessen Verengung auf die Exotik in seiner Geschichte regelmässig in Kritik geraten – gerade von Kulturwissenschaftlern. Welchen Begriff von Weltmusik hat Norient?

Das ist ein Problem, und von dieser Vorstellung grenzen wir uns ab: dass Weltmusik für europäische Ohren fremdartig klingen muss. Natürlich gibt es das, vor allem in der Folklore. Aber Musik ist auch in Afrika oder Asien offen, durchlässig und flüssig. Für Musiker aus diesen Ländern ist es problematisch oder einfach nur nervtötend, wenn ein westliches Publikum klischierte, exotische Erwartungen von ihrer Musik hegt. Diese Reaktion habe ich auf vielen Reportagen vor Ort erfahren. Denn selbstverständlich interessiert man sich auch in den Anden, auf dem Balkan oder in Südostasien für Rock, Pop und Elektro, saugt diese Stile auf und eignet sie sich an. Und findet damit auch westliche Hörer, wie der brasilianische Baile Funk oder der Tuareg-Blues aus Mali bewiesen haben. Man muss aber anerkennen, dass sich die Weltmusik-Industrie verändert hat und moderne Musik publiziert, die auch bei Norient verhandelt wird. An der Womex, der bedeutendsten Messe für Weltmusik, stossen wir regelmässig auf uns wohlbekannte Namen. Für den traditionellen Weltmusikmarkt ist unser Programm jedoch weiterhin zu sperrig. Und uns interessiert nicht nur die Dritte Welt, sondern auch Europa – und die Schweiz.

Dieses Wochenende findet das vierte Norient-Festival des dokumentarischen Musikfilms statt. Haben Sie damit die Idealform für Ihr Projekt gefunden? Multimediale Essays aus den Rändern der Popindustrie?

Der Dokumentationsfilm ist tatsächlich ein sehr gutes Format, um all die Inhalte zu präsentieren, die uns interessieren. Zuoberst steht immer die Musik, aber mit einem Film erreicht man sofort ein grösseres Publikum. 2008 wurden wir mit einem Film über indische und pakistanische Musiker in London an ein Festival in Polen eingeladen und gewannen sogleich den Publikumspreis. Das hat uns angespornt, ein eigenes Filmfestival zu veranstalten. Weil sich nach den Vorführungen mit den anwesenden Regisseuren Gelegenheit für vertiefende Gespräche ergeben.

Sie stellen dieses Jahr zusätzlich das erste Norient-Buch vor. Was ist «Out Of The Absurdity Of Life»? Eine Festschrift? Eine Bestandesaufnahme?

Sicher keine Festschrift. Das zehnjährige Jubiläum 2012 wäre an uns vorbeigezogen, wenn uns nicht ein Journalist drauf aufmerksam gemacht hätte. Formal interessierte es uns, Online-Texte in einem gedruckten Buch aufzubereiten, ausserdem gibt es nach wie vor Leser, die kaum Online-Medien benutzen. Das Buch soll die zentralen Themen von 2012 festhalten und, so hoffen wir, Jahr für Jahr für eine bleibende Tiefe sorgen. Online-Quellen verflüchtigen sich sehr schnell.

Das Buch hält u.a. den Beitrag «Once Upon A Grime In London» über die Zusammenhänge zwischen Grime-Musik und den Londoner Aufständen 2011 bereit. Benötigt Weltmusik, vor allem aus dem Untergrund, eine Verbindung zu lokalen gesellschaftlichen und politischen Themen, um Interesse zu wecken – für Ethnologen, aber auch für westliche Hörer?

Vielleicht braucht es das. Für einen Ethnologen ist es natürlich spannend, wenn er über die Gegenwartskultur Zugänge zur Gesellschaft findet. Allerdings finden sich im Buch auch Beiträge, die zum Beispiel Dabké-Musik aus Syrien behandeln und völlig bei der Musik bleiben. Es ist aber schon so, dass etwa palästinensischer Rap vor allem dann rezipiert wird, wenn er von Nahostkonflikt handelt. Für Musiker ist das ein Problem: Die werden von europäischen NGOs in ein Kongresszentrum eingeladen. Hiesige Rapper, das eigentliche Publikum also, gehen da in der Regel nicht hin, dafür spielen sie vor 50-jährigen Kulturvermittlern. Dort wird die konzeptuell passende politische Botschaft dann wichtiger als die Musik, und das ist natürlich nicht im Sinne ernsthafter Musiker.

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