«Das mit der Wehmut wird schon noch kommen», sagt Ruth Widmer. Unmittelbar nach der Premiere von «Prozess», dem fünften und letzten Teil der Elysium-Reihe der Theaterfalle Basel, stand aber die Freude im Vordergrund.
Die Freude und Befriedigung darüber, dass diese vergleichsweise kleine Institution der Basler Theaterszene ein solch aufwendiges und riesiges Projekt über die Runden bringen konnte – ohne Zusammenbrüche, ohne Streit, ohne Krisen. «Ich kann noch 19-mal Abschied nehmen», sagte Widmer mit Blick auf die noch bevorstehenden Vorstellungen.
Spiegel der Experimentierlust
Aber es ist die «Abschiedsproduktion» der Theaterfalle, wie auf dem Programmflyer zu lesen ist. Und wer die experimentierfreudige Theatergründerin und -leiterin kennt, wundert sich nicht, dass sie noch einmal aus dem Vollen geschöpft hat. Oder vielmehr, dass sie mit ihrem Team ein Projekt gestemmt hat, das alle Grenzen sprengt. «Ich habe alle Formate, die wir in den vergangenen über 30 Jahren ausprobiert haben, noch einmal zusammengebracht», sagt Widmer mit ihrem verschmitzt-sympathischen Lächeln, das eines ihrer Charaktermerkmale ist.
Nicht nur die Formate, auch die Menschen, die wichtige Kapitel in der Geschichte der Theaterfalle geprägt haben, kamen noch einmal zusammen. 72 Personen wirken beim «Prozess» mit: professionelle Schauspieler, Musikerinnen, Mitglieder des Pratteler Cantabile-Chors, eine echte Gerichtspräsidentin und ihr ebenso originaler Gerichtsweibel, ein Busfahrer samt Bus, ein Schiffskapitän samt Mannschaft und Schiff und ein ehemaliger Kulturbeauftragter, der als Bänkelsänger eine richtig gute Figur macht.
Dass Gerichtspersonen eine, beziehungsweise ihre eigene Rolle spielen, hat seinen Grund. Im Stück «Prozess», wenn man dieses szenische Feuerwerk überhaupt als Stück bezeichnen kann, geht es um eine Gerichtsverhandlung. «Um die Strafsache das Volk gegen die Schlange», wie Strafgerichtspräsidentin Felicitas Lenzinger zu Beginn verkündet. Vor Gericht verhandelt wird die «Urmutter aller Straftaten»: der Sündenfall.
Der Abend beginnt denn auch im Basler Strafgericht, beschränkt sich aber nicht auf diesen Ort. Zum Glück. Denn wenn Widmer sagt, dass sie alle Formate noch einmal zusammengebracht hat, dann muss man auch festhalten, dass die Theaterfalle nicht bei allen Formaten immer gleich überzeugend war.
Bekannte Orte, hintersinnig umspielt
Mit anderen Worten: Klassische Theatersituationen mit dem Publikum im Saal, den Spielern auf der Bühne oder eben am Richtertisch, waren nicht ihre Stärke. Verführerisch, packend und berührend war die Theaterfalle dann, wenn sie die Grenzen des Genres sprengte. Wenn die Theaterleute raus aus dem Haus gingen in die Stadt, an die Ränder des Siedlungsgebiets, wo Widmer mit seismografischem Gespür stets neue (Un-)Orte entdeckte, wo sie bekannte Orte hintersinnig umspielte.
Die Eingangsszene im Gerichtssaal kann man also abhaken, was auch dem Plot der Geschichte entspricht. Der Sündenfall lässt sich schliesslich nicht vor einem weltlichen Gericht verhandeln.
So werden die Zuschauer flugs zu Geschworenen erklärt und auf eine Zeitreise mitgenommen. Zurück in den Garten Eden (im alten Botanischen Garten), durchs Paradiestor raus in die Welt (am Petersplatz, wo die Zuschauer in zwei Gruppen aufgeteilt werden), weiter im Bus in den Erden-Garten (in den Langen Erlen beim Bässlergut), in die naturgeschützte Ödnis (auf dem ehemaligen Güterbahnareal) und dann ins Dalbeloch. Hier wartet ein Schiff, das Akteure und Zuschauer zum Endpunkt der Zeitreise auf die Spitze der Kraftwerkinsel in Birsfelden bringt.
Dort kommt es dann zum fulminanten und technisch ausgesprochen üppig bestückten Abschluss, an dem mit Beat Fuhrimann spürbar auch ein Showtechniker der bekannten Spektakeltruppe Karls kühne Gassenschau mitgewirkt hat.
Dieser Schluss ist spektakulär. Wirklich spannend ist die Theaterreise aber dazwischen, wenn Spiel und Umgebung zur faszinierenden Einheit verschmelzen. Im Botanischen Garten mit dem Bänkelsänger, im Bus, wenn eine Band zum Unmut des begleitenden Erzengels eine Ode auf Adams erste, dämonische Frau Lilith anstimmt. Auf dem ehemaligen DB-Areal, wo es zum Zwiegespräch zwischen der Schlange und der Staatsanwältin kommt. Im Schiffsbauch, wo die Plädoyers in Revueform abgehalten beziehungsweise
gesungen werden.
In solch überraschenden Experimentierfeldern lag seit je die Stärke der Theaterfalle. Im Forumstheater, wo das Publikum aktiv eingreifen konnte, bei den Adventure Games, bei Audiowalks durch die Stadt, beim Theater im öffentlichen Raum, wo sich Realität und Fiktion überlappten.
Das sind Theaterformen, die inzwischen fast schon gang und gäbe sind. Aber die Theaterfalle war stets von Beginn weg mit dabei, dank der Innovationslust und dem Organisationstalent der Leiterin.
«Lassen wir die Theaterfalle in Frieden fahren …»
Doch jetzt steht das Ende bevor. Wenn Ruth Widmer aufhört, ist auch Schluss mit ihrem Theater. «Lassen wir die Theaterfalle in Frieden fahren …», verkündet sie im Programmheft. «Ich mag nicht immer wieder von vorne beginnen, immer wieder neu Gelder beschaffen, zumal das Netzwerk derer, die uns immer wieder unterstützten, langsam wegbricht», sagt sie.
Sie sagt es ohne Groll. Obwohl ihre Theaterfalle nie Subventionen erhielt und sich mit Beiträgen aus den Swisslos-Fonds sowie von Gönnern und Sponsoren über Wasser halten musste. Und mit Geld, das man mit Auftragsarbeiten für Vereine, Schulen und dergleichen mehr verdiente.
Widmer war stets Macherin, das Klagen über mangelnde finanzielle Mittel nicht ihr Ding. Und ganz aus der Szene verschwinden wird die 1957 in Winterthur geborene Theaterpädagogin bestimmt nicht. «Ich werde mich dafür einsetzen, dass die Räumlichkeiten auf dem Gundeldingerfeld dem Theater erhalten bleiben», sagt sie. Und sie wird wohl ihre jungen Zöglinge unterstützen, die sich zu einem Netzwerk zusammenschliessen werden.
Und sie, die acht Jahre für die SP im Grossen Rat sass, wird sich sicherlich auch weiterhin politisch einmischen. Vor allem im Bereich Kantons- und Stadtentwicklung, wo sie als kluge und kreative Querdenkerin die Politik hinterfragt, welche die Stadt fertig- und zuplanen möchte.
Theaterfalle Basel: «Der Prozess», Teil 5 der Elysium-Reihe. Alle Vorstellungen sind bereits ausverkauft, Restkarten gib es an der Abendkasse beim Strafgericht.