Der Wind der schreienden Seelen

Fortunat Fröhlich und Christian Zehnder haben Urs Widmers letzten Text «Der Mythos vom Mannsberg» am Theater Basel musikalisch in Szene gesetzt. Eine Nahaufnahme an der urgewaltigen Wetterscheide alpiner Befindlichkeit.

(Bild: Peter Schnetz)

Fortunat Fröhlich und Christian Zehnder haben Urs Widmers letzten Text «Der Mythos vom Mannsberg» am Theater Basel musikalisch in Szene gesetzt. Eine Nahaufnahme an der urgewaltigen Wetterscheide alpiner Befindlichkeit.

Es ist dunkel im Foyer des Theater Basel. In den Lichtfenstern, mit denen das Draussen zu uns hereinschaut, tummeln sich schwarze Gestalten. Versilberte Flöten senden Spiegelblitze, ein rund geschwungenes Horn strahlt einen kurzen Moment voll goldener Wärme. Es schmatzt und klopft um uns herum, Tontropfen fallen aus allen Himmelsrichtungen, Kuhglocken erden das geheimnisvolle Schauspiel.

Vor uns erhebt sich ein hoher grauer Klumpen, ein aus Pappmaché stilisiertes Stück Alpen. Bauer und Bäuerin hocken davor auf dem Bänklein; sie starrt in den Himmel, er auf die Erde. Sie sehen einander nicht, im ganzen Stück nicht, bis auf einen einzigen, kurzen, überraschenden Moment des Erkennens.

Es geht um den Föhn, diese heisse Luft, die den Berg zittern und die Menschen geil werden lässt.

Doch diese beiden können auch ohne das Einandersehen und Einanderkennen gemeinsam leben, gemeinsam streiten und vor allem: gemeinsam sinnieren über den Föhn, der hier in den Bergtälern so eine Wucht erreicht, wie sie die Flachland- (und Basel-)Bewohner nie erfahren. Der Föhn, diese heisse Luft, die den Berg zittern und die Menschen geil werden lässt.

«Der Föhn fällt über dich her wie eine Braut, die dir im Liebestoben die Kehle zudrückt», schreibt Urs Widmer in diesem Text, und er hätte ihn auch auf der Bühne rezitieren sollen, hätte den Schriftsteller nicht im April diesen Jahres der Tod ereilt.

Sprachgewaltige Sätze und urkomische Kunstsprache

Hansrudolf Twerenbold ersetzt ihn, spielt den Erzähler, den Beobachter, den Touristen, den Schriftsteller auf Bildungsreise, der sich auf einem kleinen Kreisrund aus Eisenbahnschienen herumkutschieren lässt durch die für den Städter so reizvoll karge Bergwelt. Ein Fernrohr dient ihm zur Nahaufnahme; er umkreist den Mannsberg, und lässt uns fortwährend wissen, was er auf seine knallrote Schreibmaschine einhackt.

Er erzählt von diesem Berg, «der so jäh über uns in die Höhe ragt, dass wir seinen Gipfel auch dann nicht sehen können, wenn wir die Köpfe in den Nacken legen. Der Himmel ist ein Gerücht. Die Sonne ein uraltes Märchen. Wir leben, falls das ein Leben ist, im Schlagschatten des Berges.» Der Beobachter weiss: «In manchen Nächten spricht der Berg. Seine Sprache ist der Steinschlag. – Da, klare Worte. Er sagt seinen Namen. Mannsberg.»

Es sind sprachgewaltige Sätze, die diesen letzten Text von Urs Widmer ausmachen. Man kann sie geniessen und beim Wiederlesen im Programmheft auf der Zunge zergehen lassen. Man kann sich wundern, wie der Beobachter, den Berg umkreisend, in gewähltem Schriftdeutsch über die Rohheiten der Bergwelt philosophiert.

Und man kann an diesem Multi-Performance-Abend mit Lesung, Schauspiel und Musiktheater vor allem auch lachen über die eigenartige Kunstsprache, die die Bäuerin (Carina Braunschmidt) und ihr Partner, der Bauer (Martin Hug), in dauerverrenkten Körpern zum Besten geben. Ein seltsam verzerrtes Walliserdeutsch könnte das sein, das immerzu «Feeehn» sagt und allerlei andere eigenartige Wortklumpen produziert. Die Klarheit dieser Figurenzeichnungen ist nicht nur Widmers Verdienst, sondern vor allem auch den herrlich komischen Darstellern zu verdanken.

Ein stimmiges Gesamtpaket

Musikalisch wird der Abend vom Ensemble Phoenix unter Erik Oña gekonnt begleitet, und es ist eine gute, zeitgenössische Theatermusik, die Fortunat Fröhlich und Christian Zehnder da komponiert haben. Auf atonalem Boden spriessen Jodelgut und kontrapunktischer Chorgesang, und das Sirenenlied von Frau Föhn (Susanne Elmark mit wunderbar hellem, klaren Sopran) betört mit virtuosen Klangwallungen die Bauern vom hohen Berg aus wie einst die Loreley die Schiffsfahrer. Effekt- und stimmungsvoll ist diese Komposition; ein umwerfend neues Klangerlebnis aber nicht.

Und auch die inhaltliche Gesamtkonzeption gibt der Produktion in ihrer Rätselhaftigkeit eher den Charakter von Performancekunst denn einer Oper. Wofür steht der Föhn? Für eine andere, fremde Gewalt in der sonst so heimeligen Schweizer Bergwelt? Für die Verlogenheit der Natur, die erst mit zerstörerischen Stürmen Kopf- und Seelenschmerz, dann Schönstwetter, Postkartenzauber und Weitblick produziert? Für Beziehungen, die sich nur durch den warmen Wind samt Luftdruckzirkus zum Paarungsverhalten berufen fühlen? Für das triebgesteuerte Bergvolk, das endlich «einmal ein Indianer sein! Ein Perlenfischer! Keiner vom Berg, keiner aus dem Krachen! Ein Mongole!» sein will?

Auch wenn die Brisanz dieses unterhaltsamen, gekonnt inszenierten Umkreisens einer zugleich fremden wie einheimischen, aber stets unbeeinflussbaren Macht nicht offen zutage tritt – sie wirft Fragen auf. Und auch das zeichnet einen guten Theaterabend aus.

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Föhn, Theater Basel. Weitere Vorstellungen: 18., 24. und 25.9.

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