«Die 80er-Jahre hatten etwas Bedrohliches»

In seinem fulminanten Romanerstling «Der Innerschweizer» schreibt Urs Zürcher Basels Geschichte in den 1980er-Jahren um. Im Interview blickt er zurück auf das Leben in dieser Dekade.

«Es war ein Merkmal dieser Zeit des Kalten Krieges, dass viele Leute in ihren Ideologien gefangen waren»: Urs Zürcher über seinen Roman «Der Innerschweizer». (Bild: L. Balland)

In seinem fulminanten Romanerstling «Der Innerschweizer» schreibt Urs Zürcher Basels Geschichte in den 1980er-Jahren um: Eine aufmüpfige Studenten-WG geht bei einem Anschlag zu weit, tötet einen sowjetischen Diplomaten und löst den Dritten Weltkrieg aus. Ein Lesegenuss.

Mit leichter Hand und psychologisch clever spinnt Urs ­Zürcher den Faden in seinem Erstlingsroman Der «Innerschweizer». Erzählt wird die Geschichte einer Basler WG zur Zeit der Jugendbewegung in den 1980er-Jahren – mit all ihren persönlichen Verstrickungen und amourösen Tragödien, abendfüllenden Debatten über Gott und die Welt und kleinen Revolutionen am Küchen­tisch.

Aus dem Lehnstuhl-Rebellentum wird bald bitterer ernst, als WG-Mitglieder bei einem Bombenattentat einen russischen Dipolmaten töten. Die Sowjetunion erklärt dem Westen den Krieg, Truppen marschieren in Süddeutschland ein – und landen auch in Basel, das zur sowjetisch besetzten Zone wird…

Wer in den Achtzigerjahren selber in einer Wohngemeinschaft lebte, schmunzelt über die liebevoll-böse Schilderung dieser übermütigen, politisch radikalen und auch ein wenig kleingeistig verbohrten kleinen Welt. Der Autor lässt sie uns durch die Augen seines Protagonisten U. sehen, der aus der Innerschweiz nach Basel zieht, um hier zu studieren.

Pedantisch genau protokolliert U. nicht nur das wilde Studentenleben in der Wohngemeinschaft, das wie die Weltgeschichte zunehmend aus dem Ruder läuft, sondern auch die politischen Umwälzungen, die in den 1980er-Jahren für Schlagzeilen sorgten. Ein Lesegenuss.

Herr Zürcher, «Der Innerschweizer» 
ist der erste grosse Basel-Roman – ausgerechnet von einem Nicht-Basler geschrieben. Das erfüllt Sie sicher mit einer gewissen Genugtuung.

Stimmt. Es hat schon einen gewissen Reiz, als Innerschweizer einen Basler ­Roman zu schreiben. Aber abgesehen davon: Ich denke, es ist manchmal ganz gut, wenn man sich als Autor einen Schauplatz aussucht, den man nicht  seit frühester ­Jugendzeit kennt, um auch ein wenig räumliche Distanz zu schaffen.

Wie haben Sie gemerkt, dass aus Ihrem Romanerstling etwas wird?

Ich bemerkte während des Schreibens, dass dieser Text etwas hat, dass er attraktiv ist – auch zum Schreiben. Ich gab den Text dann immer wieder meiner Frau zum Lesen. Sie ermunterte mich, weiterzumachen, da auch sie wissen wollte, wie es weitergeht. Die Geschichte hat ja auch einen Soap-Charakter: mit dieser WG im Zentrum und all den Beziehungen, die sich immer wieder verändern.

«Der Innerschweizer» ist ein Roman in Tagebuchform. Warum haben Sie ausgerechnet diese Form gewählt?

Mit der Tagebuchform gelingt es, in die Köpfe der Menschen einzudringen, der Tagebuchschreiber ist gewissermassen mein Seher, meine Kamera, mit der ich in die WG hineinsehen kann. Das Tagebuch suggeriert Authentizität, obwohl es inszenierte Authentizität ist und korrespondiert damit mit dem Inhalt des Textes, nämlich der Erforschung der Grenze zwischen Realität und Fiktion, zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit.

Was hat Sie eigentlich damals in den 1980er-Jahren nach Basel getrieben?

Die Uni. Ich studierte Geschichte, und die Uni Basel hatte damals einen guten Ruf in Geschichte. Allerdings kam ich erst Ende der 1980er-Jahre nach Basel, meine Studentenzeit ist also nicht deckungsgleich mit der erzählten Zeit im Roman.

Wie haben Sie Ihre Studentenzeit erlebt?

Das Studentenleben war aufregend, aber das hatte wohl auch mit meinem Alter zu tun, in dem man ja vieles ganz spannend findet. Auf der anderen Seite hatten die 1980er-Jahre auch etwas Bedrohliches. Das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen: die atomare Aufrüstung, der Kalte Krieg, von dem man nicht wusste, wie er ausgehen würde. Diese Zeit war also beides: politisch aufregend und zugleich bedrohlich.

Das Spiel mit der Fiktion ist  sehr ausgeprägt in Ihrem Roman. Es kommen Leute aus der Zeitgeschichte vor, die Sie zum Teil in völlig neue, auch groteske und skandalöse Zusammenhänge stellen. Das muss Ihnen einigen Spass bereitet haben.

Das ist richtig (lacht). Ich hatte gigantisch viel Material zur Verfügung. Da waren viele historische Personen, mit denen ich auf eine Art umging, die ihnen vielleicht nicht gepasst hätte. Ich hatte die Realität als Material zur Verfügung, und daraus habe ich etwas Neues geformt – die Realität erweitert.

Gewisse Menschen, die Sie umgedeutet haben, leben ja noch. Befürchten Sie keinen Ärger?

Nein. Aber es ist natürlich das Glück eines jeden Romanschreibers, wenn Verfügungen eintrudeln (lacht).

Wenn Sie heute auf die 1980er-Jahre zurückblicken, wie kommt Ihnen diese Ära aus der zeitlichen Distanz vor?

Diese Zeit wurde von zwei Supermächten geprägt, von einer Angst, wie ich schon sagte, von einer steten Bedrohungslage. Es war auch eine überaus politische Zeit, die Menschen waren «politisierter» als heute. Zugleich war es auch die Zeit der Jugendbewegung. Es herrschte ein Generationenkonflikt, wie es ihn heute nicht mehr gibt. Und es war auch eine Zeit der Utopien und Visionen. Heute denkt man viel pragmatischer.

Die linken Studentinnen und Studenten in Ihrem Buch haben etwas ideologisch Verkrampftes, Unsympathisches an sich: Entspricht das der Stimmung, die Sie damals an der Uni Basel erlebt haben?

Teilweise schon. Es war ein Merkmal dieser Zeit des Kalten Krieges, dass viele Leute in ihren Ideologien gefangen waren. Machte man einen Schritt aus dem Zirkel der Bewegten heraus, hatte man rasch den Stempel des Verräters oder Klassenfeinds auf der Stirn. Das hat die Menschen damals in ihrem Denken und Handeln stark geprägt.

Gibt es eigentlich auch Positives, das Sie aus den 1980er-Jahren mitgenommen haben?

Die Kultur, die Musik zum Beispiel, die damals noch eine ganz andere Bedeutung hatte als heute. Die Musik hatte damals mehr Wildheit, Dreck, Punk. Sie war stilbildend und auch entscheidend für die politische Haltung. Heute ist alles viel cleaner, eingeebneter.


«Der Innerschweizer»: Roman von Urs Zürcher. ISBN 978-3-03762-040-3, 720 Seiten. Der Autor stellt seinen Roman am Mittwoch, 9.4., 19.30 Uhr, in der Buchhandlung Bider & Tanner in Basel vor (Eintritt frei, Reservation empfohlen). Eine weitere Lesung findet am 14.5., 20 Uhr, in der Buch-Bar Sphères in Zürich statt.

Lesen Sie das grosse Interview mit Urs Zürcher in der Wochenausgabe der TagesWoche vom Freitag, 28. März – auf Papier oder in der App der TagesWoche.

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