Die Asymmetrie der Erotik

Ein kleines Buch könnte unser Liebesleben verändern: «Agonie des Eros» vom Ex-Basler Byung Chul Han.

Byung Chul Han stärkt seine Position als neuer Mode-Intellektueller. (Bild: Michael Hudler)

Ein kleines Buch könnte unser Liebesleben verändern. «Agonie des Eros» vom Ex-Basler Byung Chul Han kommt daher wie eine forsche Spielanleitung: Wer im Liebesroulette gewinnen will, muss hohe Einsätze wagen.

Da drüben sitzt es, das «Liebespaar», in trauter Zweisamkeit am Tisch beim Eck-Japaner. Er streichelt sein Handy-Display, geschäftig, erwartungsfroh. Sie streichelt ihr Handy-Display, hingebungsvoll, verzückt. Das Essen kommt, ein scheuer Augenaufschlag hin zum Gegenüber. Stille Vereinbarung. Das Handy bleibt auch beim Essen in der Hand, der Blick gesenkt, das Gespräch vermieden.

«Agonie des Eros» heisst die neue Schrift des Philosophen und Kulturwissenschaftlers Byung Chul Han, eine harte, aber ungemein inspirierte Analyse und philosophische Beurteilung der Lage unseres Liebeslebens.

Laut Han erleben wir vor allem eine Liebeskrise, die durch die «Erosion des anderen», die Einebnung und Verallgemeinerung jeder spannungsvollen Differenz zwischen der einen und dem anderen verursacht wird. Eine «Hölle des Gleichen» nennt Han diese Sphäre: Hier finden Gespräche nur zur Selbstbefriedigung statt, und Sex ist mehr egoistischer Konsum als leidenschaftliche Gabe.

Erotik als Heilmittel

Die Depression, der heute allgegenwärtige Burn-out, ist letztlich die Kon­sequenz solch radikaler Selbst­bezogenheit und mangelnder Aufmerksamkeit für den anderen. Als Heilmittel, das uns aus dieser «narzisstischen Hölle» herausziehen kann, empfiehlt Han die Erotik. Die kann nur entstehen, wo freiwillig auf das Autonom-Sein verzichtet wird zugunsten einer wechselseitigen Unterordnung. Erotik braucht Asymmetrie, eine Alterität der Partner, kein Verlangen ohne Geheimnis, die Nicht­begreifbarkeit des anderen: «Die Negativität der Andersheit ist konstitutiv für die erotische Erfahrung.»

Wenn der andere aber «positiviert», ihm die Andersheit genommen wird, dann kann er nicht mehr geliebt, sondern nur noch konsumiert werden. Sex wird dann zum gemütlichen Kaufhausgang, der Körper des anderen zum Warenregal, in dem man sich frei bedient. Dabei muss dieser, um wettbewerbsfähig zu sein, unablässig geputzt und gestriegelt werden.

Die Sex-Schilderungen im Sado­maso-Bestseller «Shades of Grey» sind für Han der Inbegriff solch eines «Diktats der Positivität», denn selbst die ­sexuelle Grenzüberschreitung wird reglementiert, verpflichtet sich die Protagonistin doch per Vertrag «zu allen Zeiten sauber und rasiert und/oder gewachst zu sein». Jeden Tag aufs Neue rasiert sie sich so gleichsam die erotische Leidenschaft vom Leibe.

Jenseits des Positivitäts- und Reinheitswahns verhindert auch ein Zuviel an Kommunikation und digitaler Nähe die erotische Erfahrung. Denn sind wir unablässig erreichbar, dann schrumpft zusammen, was der Philosoph Martin Buber einmal die «Urdistanz» nannte: den richtigen Abstand zwischen liebenden Menschen, der verhindert, dass der andere zum Objekt wird, das immer und überall konsumiert werden kann. «Die totale Abschaffung der Ferne führt nicht zu Nähe, sondern zu Abstandslosigkeit», resümiert Han.

Es weht ein starker Wind durch ­dieses Büchlein, das in seinem kleinen Format sehr gefällig in der Hand liegt, doch schon bald seine scharfen Ecken und Kanten zeigt. Der gebürtige Südkoreaner, der von 2000 bis 2010 am Philosophischen Seminar der Uni Basel lehrte, dann zur Karlsruher Hochschule für Gestaltung (zu Peter Sloterdijk) wechselte und nun in Berlin an der Universität der Künste unterrichtet, ist in der Tat einer der leidenschaftlichsten Philosophen der Gegenwart.

Kulturpessimismus mit Verve

Seine Bücher quellen über vor originellen Gedanken, die mit Esprit geschrieben und mit Verve präsentiert werden. Zwar gibt es eine gewisse kulturpessimistische Grundierung in Hans Schriften. Aber statt mit der Geste des Salonskeptikers oder konservativen Dandys wird diese Haltung hier durch eine tiefe innere Überzeugung motiviert. Hans Bücher tragen Titel wie «Die Müdigkeits­gesellschaft» oder «Die Transparenzgesellschaft» und verhandeln jeweils mit Blick auf ein bestimmtes gesellschaftliches Phänomen das gros­se Thema des moralisch-psychischen Niedergangs unserer Gesellschaft.

Ähnlich wie ein anderer grosser «Gesellschaftsdenker», Niklas Luhmann, hat nun auch Byung Chul Han ein Buch über die Liebe verfasst. Sein Plädoyer für mehr Erotik wird seine Position als Mode-Intellektueller zu Recht weiter stärken. Schon jetzt taucht sein Name oft in Feuilleton­debatten auf, und so wird man ihn wohl bald in einem Atemzug mit Philosophie-Celebreties wie Richard David Precht, Julian Nida-Rümelin, ­Slavoj Zizek oder Raphael Enthoven nennen.

Davon abgesehen ist Han ein anregender Stichwortgeber gelungen, den all jene mit Freude lesen werden, die sich Erotik und Liebesfantasien im Zeitalter emotionaler Reproduzierbarkeit, im Porno- und Posting-Strudel, unbedingt erhalten wollen.

  • Byun Chul Han: «Agonie des Eros», Matthes & Seitz, Belrin 2012, ISBN 978-3-88221-973-9.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 11.01.13

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