Die Blockflöte – ein Leidensweg

Allmählich ver­schwindet sie sogar aus den Schulzimmern. Gibt es denn nichts Positives zu sagen zur Blockflöte? Oh, doch.

Tizians Schäferjunge bezirzt mit der Flöte eine leicht bekleidete Nymphe. (Bild: akg-images / Erich Lessing)

Allmählich ver­schwindet sie sogar aus den Schulzimmern. Gibt es denn nichts Positives zu sagen zur Blockflöte? Oh, doch.

Kaum ein anderes Musikinstrument versteckt sich auf so vielen europäischen Dachstöcken. Kaum ein anderes Musikinstrument hat so viele Menschen musikalisch entjungfert. Dennoch oder auch gerade deswegen sind die Erinnerungen an die Blockflöte zu grossen Teilen eher traumatischer Art.

Wer als Kind je den Traum hegte, die tiefe Fülle eines Pianos oder die Höhen einer Violine zu ergründen, musste damit rechnen, zuerst einmal für zwei Jahre auf den Boden der Blockflöte geholt zu werden. Und auch wer eigentlich lieber Fussball spielte, musste in der Primarschule zwangsbedingt zwischendurch mal zur Flöte.

Übrig blieben in vielen Gedächtnissen vor allem die hölzernen, schwächlich anklingenden Misstöne einer musikalischen Zwangsverordnung und der Geschmack von angenagtem Holz. Kurz: Die Blockflöte gilt heute etwa als das diametrale Gegenteil von Coolness und Rock’n’Roll. Etwas Schülerhaftes haftet ihr schwer an.

Ausgehöhlte Geierknochen

Bereits durch ihre enge Verwandtschaft mit der «Pfeife» liegt ein Verdacht auf eine familienbedingte Veranlagung zur Einfachheit nahe. Und so wird auch etwa schon so lange geflötet, wie Menschen überhaupt Klänge von sich geben. Die ältesten Funde zeigen, dass Menschen in der Steinzeit auf ausgehöhlten Geierknochen Töne bastelten. Die Bibel stellt die Flöte in zweifelhafte Verwandschaftsverhältnisse: Der Hebräer Jubal, dessen Alturgrossvater Kain der erste Mörder der biblischen Welt war, wird als der Urvater aller Zither- und Flötenspieler bezeichnet.

Für den Block, also das Kernstück im Kopf der Flöte, das den einströmenden Atem in einen geordneten Windkanal schnürt und dem Instrument seinen heute geläufigen Namen gab, war die Zeit aber erst viel später reif. Wann sich aus den Importen der Mauren und der Slawen das entwickelte, was wir heute als Blockflöte bezeichnen, ist genau nicht zu datieren. Die dunkeln Jahre des europäischen Mittelalters wurden jedenfalls bereits von Flöten­tönen begleitet, doch standen damals alle Instrumente im langen Schatten des Minnesangs. Hinaus ins Licht und zur ersten Blüte kam das Instrument erst eine Epoche später. Zu Renaissance- und Barockzeiten hatte die Flöte ausnahmsweise Konjunktur.

Viele Königshäuser engagierten Blockflötisten an ihren Höfen. Heinrich VIII. von England leistete sich gar die Dienste der venezianischen Musikerfamilie Bassano, die in seiner Hofkapelle um die Blockflöte besorgt war und für mehr als hundert Jahre den Ton des italienischen Musikeinflusses in England mitbestimmte.

Rang und Namen entdeckten das Holz in dieser Zeit für sich. Vivaldi schrieb hochvirtuose Konzerte für die Altblockflöte und mindestens drei weitere für die kleinere Sopraninoblockflöte, den «Flautino». In den Brandenburgischen Konzerten gestand Johann Sebastian Bach der Altblockflöte gar mehrere Soli zu.

Bereits im 18. Jahrhundert wurde das helle Licht um die Blockflöte aber wieder etwas gedimmt. Gegen die zartere und fast aufklärerische Querflöte zog die hölzerne mit ihrer Direktheit, der eine Variation der Lautstärke oder ein Vibrato fremd ist, den Kürzeren. Ihre jüngere Schwester machte sie vor allem in Orchestern obsolet.

Der schnelle, tiefe Fall

Der Fall kam relativ plötzlich und reichte tief. Bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts war die Blockflöte eine bedrohte Art. Als Igor Strawinski zum ersten Mal eine erblickte, hielt er sie für eine Art Klarinette. Die ersten Reinkarnationsversuche unternahm der Instrumentenbauer Arnold Dolmetsch, der in Haslemere in England eine Instrumenten-Werkstatt gründete. Es sollte die Wiedergeburtsstätte der Blockflöte werden. Bereits 1920 konnte er die ersten Reproduktionen alter Barock-Instrumente auf den Markt bringen.

Was sich George Bernhard Shaw leisten konnte, blieb für die meisten unerschwinglich. Und das Bedürfnis nach preiswerten Instrumenten bestand vor allem in Deutschland. Die popularisierende Kraft hinter der Verbreitung der Blockflöte war die deutsche Jugendbewegung rund um die Wandervögel, die später von den Nazis ideologisch vereinnahmt wurden.

Aus einer harmlosen Abneigung gegenüber den künstlichen Werten der neuen mechanischen Welt und auf dem Weg zurück zur Natur, waren die Wandervögel auf der Suche nach einem Instrument, das sie einfach auf ihren Ausflügen begleiten konnte und ja nicht virtuos war. Die Blockflöte erfüllte zwar sämtliche dieser Suchkriterien, doch die schönen Einzelstücke von Dolmetsch waren teuer.
Ein Auge für die breitere Masse hatte der deutsche Multiinstrumentalist Peter Harlan. Ohne seinen Nachschub von Billiginstrumenten in den 20er- und 30er-Jahren wäre die Blockflöten-Welt heute eine andere. Da der Jugendbewegung viele Junglehrer angehörten, war der Schulweg für die Blockflöte nicht mehr weit. Bevor sie aber über den offiziellen Bildungsweg ihr Unwesen trieb und in Gestalt von billigen Plastikröhren, die auch genau danach klangen, Schülern im ganzen Land die Lust nach Musik raubte, erlebte die Gequälte noch einen weiteren Tiefschlag.

Unkontrolliert und rauschhaft

Unter den Augen von Adolf Hitler musste sie bei der Eröffnungszeremonie der Olympischen Spiele 1936 in Berlin eine Tanzgruppe musikalisch begleiten. Dank ihrer zumindest wörtlich positiven Eigenschaften «Handlichkeit, Einfachheit und tiefer Preis» ging sie sogar einigermassen gestärkt aus dem Zweiten Weltkrieg hervor.

Der hölzerne Weg der Flöte wurde oft auch kulturell gespiegelt. Gegenüber den engelhaften Streichern wirkte die Flöte immer und unkontrolliert rauschhaft. So finden wir bereits in Hieronymus Boschs «Garten der Lüste» einen flötenden Mephisto. Und auch bei Jan Vermeers «Mädchen mit Flöte» werden wir misstrauisch, hält sie doch die Flöte halb versteckt unter dem Tisch.
Dass die Flöte phallisch konnotiert ist, haben nicht erst die Macher der Hollywood-Komödie «American Pie» verstanden. An manchen Orten war es aus diesem Grund Frauen verboten, Flöte zu spielen. In der bildenden Kunst finden wir das Phallische beispielsweise in Tizians «Schäfer und Nymphe», wo ein Hirtenjunge auf teuflische Weise eine leicht bekleidete Frau mit seiner Flöte bezirzt. Es scheint ihr Ungemach zu drohen. Den gefährlichen Mix von Verführung und Tod führt auch der Rattenfänger vor. Mit seiner Flöte lockt er die plagenden Ratten aus der Stadt. Weil ihm die Stadtbevölkerung aber seine Belohnung verwehrt, rächt er sich mit dem gleichen Mittel an ihren Kindern.

Als Symbol einer scheinbar heilen Welt erscheint die Blockflöte erst viel später. So wird sie etwa bei Friedrich Dürrenmatts Physikern von Möbius’ Söhnen vorgespielt. Dieser erträgt die Scheinidylle nicht und rastet aus.

Aber: Lauscht man genau hin, so hört man eine unschuldig Verurteilte. Antonio Vivaldis höchstvirtuose «Flötenkonzerte», die er als Angestellter eines venezianischen Waisenhauses für Kinder schrieb, haben bis heute nichts an ihrer Frische eingebüsst. Besonders die Interpretationen von Conrad Steinmann, der an der Schola Cantorum in Basel Blockflöte lehrt, führen das weite Spektrum von Rausch und Leichtigkeit vor. Doch auch bekanntere Namen konnten die Finger nicht vom Teufelsinstrument lassen: Die Beatles, die Stones, Hendrix, Led Zeppelin und viele mehr machten Gebrauch von der Blockflöte. Wer also dem Rock näher ist als dem Barock, wage einen Blockflöten-Neuanfang mit «Ruby Tuesday».

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 24.08.12

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