Mit dem Festival «It’s the Real Thing» wirft der Basler Regisseur Boris Nikitin nicht nur einen kritischen Blick aufs heutige Theater, sondern auf die Wirklichkeit selbst – mit aufschlussreichen Ergebnissen.
Eigentlich kam Boris Nikitin erst spät und «eher zufällig» zum Theater. In seiner Jugend interessierte sich der Basler mit russischen, französischen und slowakischen Wurzeln vor allem für Film, die Familientradition war dagegen naturwissenschaftlich geprägt. Doch bereits mit seinen ersten Schülertheatern erregte der heute 34-jährige Regisseur über die Stadtgrenzen hinaus Aufmerksamkeit und wurde als grosses Talent gehandelt.
Umso grösser fiel vielerorts das Bedauern aus, als Nikitin 2002 beschloss, Basel den Rücken zu kehren, um im beschaulichen Giessen angewandte Theaterwissenschaften zu studieren. Auch im deutschen Exil realisierte Nikitin allerdings schon bald landesweit hochgelobte Projekte, so etwa das Festival «diskurs 05» und die beiden preisgekrönten Stücke «Woyzeck» und «F wie Fälschung».
Seit 2009 inszeniert er als freier Regisseur in Berlin und in Zürich sowie zunehmend wieder in seiner Heimatstadt Stücke, die durch ihren Rekurs auf die eigenen Produktionsbedingungen auffallen und dem Theater der Gegenwart damit einen ungewohnten Spiegel vorhalten – allerdings keinen intellektuell-verbrämten, sondern vielmehr einen humorvoll-cleveren. Mit dem von ihm entworfenen Festival «Its the Real Thing» stellt er diese Perspektive nun erstmals auch in Basel dezidiert in den Mittelpunkt.
Boris Nikitin, als wir uns erstmals begegneten, berichtete Telebasel gross über Ihr Schultheater «Freier» – weil es um ein Bordell ging und Schülerinnen Prostituierte verkörperten.
Stimmt. Das muss so 1999 gewesen sein, oder? Jedenfalls war es das erste Mal, dass eines meiner Stücke im Fernsehen kam. Es war so eine Art fast empörter «Enthüllungsbericht», der aufdecken wollte, was für Themen heute in Schüler-, oder besser gesagt, Schülerinnentheater behandelt werden, denn die Klasse, die «Freier» aufführte, war eine reine Mädchenklasse.
Es erschien einigermassen skandalös, dass Sie als Mann die Schülerinnen in einem derartigen Kontext auftreten liessen.
Ja, ich erinnere mich. Und irgendwie ist das auch ein lustiger Zufall, dass wir uns heute nach all den Jahren wieder unterhalten, wo ich ja aktuell selber indirekt in der Rolle eines «Enthüllers» unterwegs bin.
Sie meinen, aufgrund Ihrer Tätigkeit als künstlerischer Leiter von «It’s the Real Thing»?
Ja, denn dabei geht es ja genau um diese Fragen. Zum Beispiel, inwiefern Theaterinszenierungen unser Verständnis von einer gesellschaftlichen Wirklichkeit prägen. Wobei Medien da natürlich noch eine viel entscheidendere Rolle spielen, gerade, weil sie ihre eigene Perspektive noch viel stärker unsichtbar machen können. Und dabei stets vorgeben, Neuigkeiten zu rapportieren oder «Probleme» zu benennen.
«Die medial geschürte Angst ist plötzlich zu einer Realität geworden!»
Spielen Sie jetzt auf etwas Bestimmtes an?
Mir fällt zum Beispiel auf, dass meine Eltern sich heute viel mehr Sorgen um die Sicherheitslage in Basel machen als früher. Für mich eine fast absurde Sorge, da ich ja in den letzten Jahren in Grossstädten wohnte und mir Basel sehr sicher scheint. Aber für sie ist die Angst nicht nur eine Frage der «subjektiven Sicherheit», wie man das heute ja nennt, sondern wirklich zu einer Realität gewordenen. Eine Realität aber, die – wie ich vermute – durch eine gewisse politische Diskussion und Berichterstattung erst erschaffen wurde.
Und was hat das jetzt mit den «Dokumentartagen» zu tun, die Sie ins Leben gerufen haben?
Sehr viel. Die Idee, Dokumentarisches im Theater zu zeigen, hat sich in den letzten 10, 15 Jahren extrem entwickelt. Am Anfang ging es um Fragen wie «Wer steht auf der Bühne und warum?» – also einerseits um die gespielten Rollen, andererseits aber auch ganz konkret um die Personen. Warum sollten nur Schauspieler auf der Bühne stehen dürfen? Warum nicht genauso gut Leute aus dem Publikum, die ihre eigenen Geschichten erzählen? Warum sollten diese Geschichten nicht genauso interessant und wichtig sein, obwohl – oder gerade weil! – sie im klassischen Theater nicht vorkommen? Denn, wer wird auf der Bühne denn repräsentiert? Dominiert hier nicht nach wie vor die Figur eines männlichen, weissen, heterosexuellen und tendenziell einer höheren Schicht zugehörigen Bürgers?
Eine berechtigte Frage – aber keine neue: Über dieses Thema wird in postmodernen Diskursen ja schon seit den 1970er-Jahren diskutiert. Und im Jungen Theater ist diese Perspektive ebenfalls bereits seit vielen Jahren Praxis. Ihre ersten eigenen Stücke waren damals ebenfalls stark geprägt vom Input der Schüler.
Das stimmt. Und wenn man noch einen Schritt zurückgehen will, hat zum Beispiel die ganze Performance-Kunst, etwa die Fluxus-Bewegung oder Künstlerinnen wie Marina Abramović, genau dies zum Thema: Mit den Personen oder Körpern der Künstler zu arbeiten, also mit den realen Gegebenheiten, statt um die Körper eine «Geschichte» zu erfinden. Ich würde sagen, es ist ein ähnliches Strategiefeld, weil es um die Frage geht: «Was wird im Theater eigentlich erzählt und damit konstruiert?»
Gerade im Jungen Theater entstehen die Erzählungen allerdings oft im Probenprozess, also durch die Praxis, und werden danach in eine «Theaterform» gebracht. Mir geht es aber genau um das Umgekehrte: um die Reflexionsschlaufe dahinter. Also um die Frage: «Was kann Teil der Theaterperformance sein und was nicht? Und warum nicht? Und hätten nicht gerade diejenigen Narrative, die normalerweise nicht Teil des Theaterrepertoires sind, einen genauso grossen oder gar grösseren Wert, aufgeführt zu werden?»
Da gab es doch immer schon Dramatiker, die diese Frage aufgeworfen und dabei die Perspektive verändert haben. Zum Beispiel Brecht.
Brecht ist eine wichtige Referenz. Er hat eigentlich als erster den Akt des Die-Bühne-Betretens auch in seiner wirklichkeitskonstituierenden Bedeutung gesehen. Also nicht nur als Akt, der auf eine Fiktion verweist, sondern zugleich als real. In der Theorie ist das seither gültig, aber nicht in der Theaterpraxis. Obwohl Theaterrollen ja in den Geistes- oder Gesellschaftswissenschaften immer als Modelle herangezogen wurden, um gewisses Verhalten zu typisieren oder zu erklären, hat man sich bis vor Kurzem nie die Frage gestellt, ob und inwiefern das Gezeigte «wirklich» ist.
Und genau das passierte mit den ersten «dokumentarischen» Theateraufführungen: Dadurch, dass sie etwas aufführten, was wirklich geschehen ist, etwa die Protokolle der Friedensverhandlungen in Ruanda, war dieses Theaterstück plötzlich nicht mehr «fiktional». Plötzlich gehörte es zur Gattung der «Information», etwa wie eine teils nachgestellte «Doku»-Sendung. Und genau dies war unglaublich neu für das Theater. Es war plötzlich nicht mehr eine klassische, ästhetische Erfindung, die einen gewissen Modellcharakter für die Wirklichkeit haben könnte, sondern nun tatsächlich auf einmal selber «echt», «real» und «wirklich».
Aber trotzdem auch wieder nicht. Denn gerade dem Theater sieht man ja wie sonst kaum einem Medium – etwa Büchern oder Filmen – seine «Konstruiertheit» an. Weil es eben nur die Aufführung der Realität ist.
Aber eben dies ist umgekehrt für mich die Chance des «dokumentarischen Theaters». Weil sich die Frage, inwiefern es «real» ist, gar nicht stellt – gerade, weil jeder merkt, dass es sich um eine Rekonstruktion der Realität handelt, und damit immer auch um eine «Konstruktion». Ich sage meinen Schauspielern immer: «Die Darsteller auf der Bühne sind Betrüger.» Weil sie uns eine Wirklichkeit vorgaukeln, die keine ist. Und mit diesem Wissen kann man wiederum ihre vermeintliche Autorität brechen. Indem man sie tatsächlich auf eine «wirklichere» Wirklichkeit treffen lässt.
«Dass Theater plötzlich nicht mehr fiktional ist, sondern real – das ist eine grosse Chance!»
Inwiefern? Dass man auf einmal nicht mehr weiss, was was ist?
Einerseits, ja. So etwa, wenn man plötzlich als Zuschauer den Eindruck hat, einer Probe beizuwohnen, so wie beim Stück «The Rehearsal», wo man sich fühlt wie in einer Art «Truman Show», und sich fragt: «Was ist hier inszeniert, was echt?» Andererseits wenn das Theater an reale Orte geht, wie bei unseren «Exkursionen in die Wirklichkeit» (siehe Box), wo erst das Theater umgekehrt die «Performativität» der Realität aufzeigt: Also inwiefern die «normale» Wirklichkeit an Orten wie Schule oder Gericht tatsächlich den Gesetzen einer Aufführung gehorcht.
Weil hier eben nicht zufällig ist, wer spricht und was gesprochen werden darf oder kann?
Genau. Es ist etwas Ähnliches wie bei den «Readymades» in der Kunst. Erst der Rahmen bestimmt, dass das eine ein Gebrauchsobjekt ist, das andere Kunst. Genauso hier, die Perspektive zeigt etwas auf, was einem sonst gar nicht auffällt: Wie künstlich diese Wirklichkeit ist. Das Stück bekommt dabei unversehens einen stark verfremdenden Effekt, der aufzeigt, wie fremd uns diese Abläufe auch in der Realität eigentlich sind – oder zumindest wären.
Also geht es im «dokumentarischen Theater» nicht darum, Echtes auf die Bühne zu bringen, sondern das scheinbar Echte unserer Realität als «theatralisch» und «performativ» zu entlarven? Das Theater als ewiges Spiegelkabinett?
Spiegelkabinett … Ja, das gefällt mir.Eine Form, um uns selber den Spiegel vorzuhalten, aber gleichzeitig den Spiegel nicht mit der Realität zu verwechseln. Die Realität ist ja vielmehr das, was sich dazwischen abspielt, in diesem Konstruktionsprozess: Der Moment, wo man eine Distanz zum Erlebten aufbaut, ohne dass das Stück an die Stelle der Realität tritt. Und genau da hat Theater als Kunstform meiner Meinung nach sein Potenzial noch lange nicht ausgeschöpft.
Genauso wie Castingshows und Doku-Soaps soeben früheren TV-Shows den Rang abliefen?
Es passiert etwas Ähnliches: Die Castingshows zeigten auf, wie künstlich TV-Shows sind – ohne dass die Doku-Soaps selber aber weniger künstlich wären. Im Gegenteil: Dieser Zwang zur Authentizität, dieses «Sei du selbst!» ist ja das Künstlichste überhaupt am Fernsehen, aber es wird erst jetzt öffentlich thematisiert – weil diese Shows die Wirklichkeit eben nicht nur abbilden, sondern erst schaffen und damit die Realität verändern. Und diese Einsicht über das Fernsehen an sich gewinnt man wiederum erst als Folge dieser Pseudo-Dokus … Also nicht durch das eine oder das andere, sondern durch das «Dazwischen», durch jene Position, die sich erst durch die Reflexion herauskristallisiert: Als Zuschauer von uns Zuschauenden, als Meta-Zuschauer, quasi.
Und was wäre die Lehre dieses Meta-Zuschauers denn für unsere Alltagsrealität oder Alltagsbühne?
Dass Kommunikation anstrengend ist, weil sie viel komplexer ist, als uns dies bewusst ist. Wir müssen lernen, dass Kommunikation anspruchsvoll ist und dass das okay ist – genauso wie Demokratie anstrengend ist, weil sie auf öffentlicher Kommunikation beruht, und damit ebenso eine «Bühne» ist, die oft unsichtbaren Dramaturgen gehört.
Ist das der Grund, warum die Piraten in der Politik bisher gescheitert sind? Weil sie die Regeln dieser Bühne nicht eingehalten haben, etwa die Regel, stets allwissend zu sein?
(Denkt lange nach) Stimmt. Ein super Beispiel! Je länger ich überlege, desto interessanter scheint es mir. Die Piraten haben die Regeln unserer «politischen Bühne» aufgezeigt, das ist ihr Reiz und Verdienst, aber schliesslich auch ihr Problem. Sie können die Regeln so eben nur aufzeigen, aber nicht ändern. Sehr spannend! Ich hoffe, wir können diesen Gedanken in einen der Workshops einfliessen lassen!
Frei nach dem Motto «It’s the Real Thing» bringen die «Basler Dokumentartage 13» vom 17. bis 21. April Ensembles aus ganz Europa nach Basel, die sich für einen neuen, «dokumentarischen» Ansatz im Bereich Theater und Performance-Kunst engagieren. Die versammelten Künstler wie Jérôme Bel, Rabih Mroué und Rachid Ouramdane setzen sich bei ihren Gastspielen in der Kaserne und dem Theater Roxy alle mit der Wahrnehmung und Konstruktion von Wirklichkeit auseinander und spielen mit den Grenzen zwischen dem «Echten» und dem «Fiktionalen» im Theaterbereich.
So öffnet die Gruppe She She Pop in «Schubladen» eigene Briefe und Tagebucheinträge aus der Zeit der Wende, um die Wiedervereinigung anhand der Biografie der Darstellerinnen erlebbar zu machen, oder bringt in «Breiviks Erklärung» des Schweizers Milo Rau die Gerichtsrede des Massenmörders auf die Bühne, um das Publikum dessen beklemmender Argumentationskette auszusetzen. In «The Rehearsal» zeigt die spanische Tänzerin Cuqui Jerez dagegen «die Probe einer Probe» und imitiert das Echte, indem sie mit der eigenen Inszenierung spielt.
Unter dem Titel «Real Places» bietet das Programm ausserdem Exkursionen in die «Wirklichkeit» an, welche das Kollektiv Gob Squad und die Theaterschaffenden Beatrice Fleischlin und Ariane Andereggen performativ mit dem Publikum unternehmen. Die Ausflüge führen in die Schule, ins Gericht oder in die Kirche und untersuchen die Grenzen zwischen Öffentlichkeit und Privatheit sowie zwischen Realität und Inszenierung.
Am Wochenende des 20./21. April findet schliesslich ein Symposium statt, wo etwa Soziologe Dirk Baecker oder Politstratege Gregor Gysi ihre Gedanken zum Thema vortragen. Ziel von Initiant und Leiter Boris Nikitin ist es, «It’s the Real Thing» zum «Thinktank und Katalysator der Wahrnehmung, Beobachtung, Diskussion und Gestaltung von Wirklichkeit» zu machen.
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 05.04.13