Die Erotik der Äste

Nichts ist, wie es scheint: Noch vier Wochen zeigt das Kunstmuseum Basel eine Retrospektive von Zeichnungen des Berners Markus Raetz. Eine Ausstellung, bei der nicht das Werk, sondern der Schaffensprozess im Vordergrund steht.

Markus Raetz: «Eva», 1970, Polaroid (Bild: zVg)

Spiel mit der Wahrnehmung: Noch vier Wochen zeigt das Kunstmuseum Basel eine Retrospektive von Zeichnungen des Berners Markus Raetz. Dabei gilt: Der Weg ist das Ziel.

 

Ein Hase ist ein Hase ist ein Mann mit Hut: Kaum ein zeitgenössischer Künstler versteht sich auf Metamorphosen und Mehrdeutigkeiten so gut wie der Schweizer Markus Raetz. Bereits in seinen ersten Schaffensjahren Ende der Sechzigerjahre zur documenta in Kassel geladen, blickt der Berner heute auf ein Œuvre zurück, das mehr als 30’000 Zeichnungen umfasst. Daneben finden sich zahlreiche Aquarelle, Polaroid-Fotos und Skulpturen. Eine Auswahl von 200 Werken aus fünf Jahrzehnten präsentiert das Kunstmuseum Basel aktuell in seinem Kupferstichkabinett. Noch bis zum 17. Februar läuft die Ausstellung, die in enger Zusammenarbeit mit dem Künstler selbst kuratiert wurde.

Herausgekommen ist eine Retrospektive, die das vermeintliche Wissen des Rezipienten über das Objekt seiner Betrachtung infrage stellt. Nichts ist so banal, wie es scheint. Sperriges schafft Sinnliches, die stärkste Kontur ist die fragilste. Vermeintlich Unzusammenhängendes fügt sich zu einem Ganzen, das genauer kaum wiedergegeben sein könnte.

Dabei greift der, der da den Besucher herausfordert, auf eine ungewöhnliche Bandbreite an Mitteln und Techniken zurück: Viele der frühen Werke entstanden durch groben Pinsel mit blasser Tusche auf Makulaturpapier. In gewissem Widerspruch zur Kontrastarmut dieser Bilder stehen oft ihre Inhalte, streng geometrische Gebilde und Muster. Aus dem Jahr 1976 sind zwei Exponate vorhanden, bei denen es sich umgekehrt verhält – da ist ein schwanzwedelnder Hund, niedlich, harmlos. Doch scharfe Trennungen und heftige Kontraste durch düstere Flächen geben dem Motiv etwas mindestens unterschwellig Bedrohliches.

Alles ist erlaubt

Mal arbeitet Raetz, zu dessen frühen Förderern unter anderem Harald Szeemann, damals Leiter der Kunsthalle Bern, gehörte, mit Filzstift, für die Collage «Profile» klebte er 210 rechteckige Papierchen mit Gesicht- und Mimikstudien auf Halbkarton. Diese  Vielseitigkeit im Herangehen haben Kritiker ihm immer wieder als Unentschlossenheit ausgelegt. Genau darin aber besteht Raetz roter Faden: Im Einfall, im schier unbedarften Experimentieren. Aus kantigen Streichholzstückchen entwirft er eine dreidimensionale Figur, die entspannter und weicher in der Anmutung ihrer Bewegung kaum sein könnte, beweist so: Einschränkungen durch das Material, mit dem gearbeitet wird, gibt es nicht.

Dazu passt eines seiner bekanntesten Werke, eine Installation mit dem Titel «Nach Man Ray». Zwei identische, parallel aufgestellte Zylinder mit asymmetrischen Kanten drehen sich in entgegengesetzte Richtung um die eigene Achse und lassen so in ihrer Mitte die Silhouette einer Frau entstehen, die lasziv die Hüften schwenkt. Wie viele von Raetz Werken besitzt es eine hohe Erotik, die oft mit einfachsten Mitteln erzeugt wird. Hier fotografiert er drei gekonnt angeordnete Äste, dort malt er eine Nackte in den Sand. Die tiefen Furchen, die er dazu gezogen hat, vermitteln eine Beständigkeit, die wie so Vieles trügerisch ist. Ein Polaroid weiter, und der Besucher sieht die Gischt kommen, die sich unaufhaltsam nähert und den Körper hinfort spülen wird. Die Schönheit also, so gesund und kraftvoll sie sich gebärdet, ist vergänglich.

Am Anfang war der Punkt

Eindrucksvoll ist auch seine Reihe von Raster-Bildern, die beim Zurücktreten einen Torso, eine Strassenszene oder ein Gesicht ergeben. So wie im Fall von «Monika», einem Porträt seiner Frau aus dem Jahr 1979. Raetz verlässt sich auf den Betrachter – erst er vollendet das Werk, indem er die Augen zusammenkneift.

Raetz’ Spiel mit der Wahrnehmung, mit Unschärfen und Perspektivwechseln, ist dabei angenehm unprätentiös, weil es zu keiner Zeit das Einzelwerk, sondern immer den Schaffensprozess in den Vordergrund stellt. Aus dieser Einstellung heraus hat der Künstler dem Museum einen seltenen Schatz zur Verfügung gestellt: 60 Skizzenbücher und Hefte sind in der Sammlung zu sehen, die sowohl etliche Vorstudien zu Plastiken und Bildern enthalten, als auch eigene, ironische bis poetische Auseinandersetzungen mit menschlichen Körpern und Wahrnehmungsprozessen.

Wer noch nicht Zeuge dieser Verwandlungen geworden ist, dem sei empfohlen, sich eine weitere berühmte Skulptur Markus Raetz’ zu Herzen zu nehmen, die beim Wechseln des Standorts ihre Aussage verändert. Ein Nein ist ein Nein ist ein Ja – aus «No» wird «Yes».

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