Die Kunst des Fliegens

Geniales Meisterwerk oder abenteuerlicher Flugapparat? Wie die Sehnsucht vom menschlichen Vogelflug den Geist von Künstlern und Erfindern beflügelte.

Flügelskizze nach Fleder­maus­flügelstudien von Leonardo da Vinci um 1500. (Bild: Getty Images)

Geniales Meisterwerk oder abenteuerlicher Flugapparat? Wie die Sehnsucht vom menschlichen Vogelflug den Geist von Künstlern und Erfindern beflügelte.

Vögel können, wovon wir Menschen seit Tausenden von Jahren träumen: aus eigener Körperkraft fliegen. Dieser Umstand inspirierte Erfinder und Künstler gleichermassen: Sie entwickelten abenteuerliche Apparate, mehr Kunstwerke als Maschinen, um dem Traum vom Fliegen ein Stückchen näher zu kommen.

Mit eigener Körperkraft am Himmel zu kreisen, so schwebte es dem russischen Künstler Vladimir Tatlin vor, sollte dem Menschen ebenso ein Bedürfnis werden wie das normale Gehen auf der Erde. Neben seinem international bekannt gewordenen und verschollenen Modell des 400 Meter hohen Turmes für die III. Internationale von 1919 entwickelte Tatlin auch ein «Flugfahrrad», den «Letatlin» (1929–1932): eine elastische Konstruktion, die sich am Vogelflug orientierte. Wie ein Schwimmer sollte der Mensch darin liegen und seinen Flug lenken.

In einer Zeit, als Flugzeuge bereits am Himmel donnerten, wollte Tatlin dem Menschen das Gefühl ermöglichen, sich mit dem eigenen Körper in der Luft zu bewegen. Für ihn stellte sein Flugapparat die «komplizierteste, dynamische Material-Form dar, die als Gebrauchsgegenstand in den Alltag der sowjetischen Massen Eingang finden kann».

Revolution von unten

Seine an eine Skulptur erinnernde Flugmaschine wurde zwar auf Flugschauen bewundert, geflogen ist Tatlin damit aber nie. Mit seiner Flugtechnik mag er gescheitert sein, mit seiner Kunst ist er es nicht, wie die grosse Retrospektive im Museum Tinguely zeigt. Die frühe Malerei Tatlins bereichert die Avantgarde des Westens um Picasso und Matisse um eine russische Position, die Erfindung seiner in den Raum greifenden Konterreliefs war bahnbrechend.

Auch gesellschaftlich lebte der als Seefahrer ausgebildete Künstler in einer bewegten Zeit: Die Russische Revolution von 1917 war noch nicht lange vorbei, die Utopie einer Gesellschaft, in der dem arbeitenden Volk die mächtigste Stimme gehörte, befeuerte den Geist vieler Menschen.

Wirft man in der Geschichte des Fliegens einen Blick zurück, landet man unweigerlich bei einer Verknüpfung von Kunst und Technik. Und bei Erfindern und Künstlern, die den geistigen und kreativen Flug in ungeahnte Höhen wagten – mit mehr oder weniger sanfter Landung.

Die Frühe Neuzeit war für die Kunst des Fliegens entscheidend: Ob Aberglaube oder traditionelle Sichtweise, die Vorstellungen von Fabelwesen und Hexen, von magischen Luftwundern und fliegenden Himmelsschiffen schwirrten in den Köpfen der Menschen herum und hatten ihren festen Platz in Leben und Alltag. Der wohl bekannteste Künstler und Gelehrte, der am Beginn dieser Ära steht und dessen Überlegungen der symbolische Auftakt dieser «neuen Zeit» in der Geschichte des Fliegens darstellen, ist Leonardo da Vinci (1452–1519).

Für Da Vinci hatte der Traum vom Fliegen in erster Linie keine mythische oder magische Dimension mehr, sondern war eine geniale Idee und technische Fragestellung, an der er sich sein ganzes Leben lang abarbeitete. Von ihm sind über 500 Skizzen und Handschriften zum Flugproblem bekannt, die er über einen Zeitraum von 24 Jahren fertigte. Seine zahlreichen Studien zu Gleit- und Fallschirmen zeugen von einer innerlich emotionalen Besessenheit vom Fliegen. Unter den Entwürfen Da Vincis befindet sich auch einer für einen schraubenförmigen Flügel aus Tuch und Kleister, mit dem der senkrechte Aufstieg in himmlische Höhen gelingen sollte. Einer breiten Öffentlichkeit bekannt wurde Da Vincis Erfindung erst, nachdem die ersten Hubschrauber Anfang des 20. Jahrhunderts mit der Hilfe von Motoren abhoben.

Auch machte Da Vinci Versuche, mit von Muskelkraft bewegten Flügeln zu fliegen. Er erkannte, dass Arm- und Brustmuskulatur des Menschen zu schwach sind, um angeschnallte Flügel zu bewegen. So hatte Da Vinci die Idee einer Tretmaschine, die die Kraft der Beine nutzte. Doch seine Ideen waren nicht realisierbar, der Vogelflug blieb der Sphäre des Übernatürlichen und der gefiederten Gattung von Amsel, Drossel, Fink und Star vorbehalten. Eine Anekdote von Giorgio Vasari, dem frühesten Biografen Da Vincis, veranschaulicht die ursprüngliche Intention und Inspiration des italienischen Genies sehr gut: Auf dem Markt von Florenz habe dieser Vögel gekauft, um deren Käfig zu öffnen und sie in die Freiheit entfliegen zu lassen.

Weltsicht von oben

Für die Kunst zeichnet sich mit der Idee des menschlichen Fluges knapp 300 Jahre vor der Eroberung des Himmels durch Heissluftballons (1783) ein fundamentaler Wandel in der Wahrnehmung der Welt ab: nämlich die Möglichkeit eines Perspektivenwechsels. Die Möglichkeit einer Vogelperspektive auf die Erde, Menschen und Dinge von oben und aus weiter Ferne und Höhe zu sehen, beflügelte die Fantasie der Künstler.

Der erlebte oder ­lediglich imaginierte schwerelose Zustand inspirierte zu immer neuen Erfindungen und Ideen. In der Kartografie des 15. Jahrhunderts schlug sich dann auch eine neue Weltsicht nieder, die sich zunehmends von einer religiös inspirierten des Hochmittelalters entfernte. Um 1500 waren die ersten gedruckten Land- und Reisekarten erhältlich, ein regelrechter Boom der neuen «Kunst», der Kartografie, setzte in Europa ein. Etwa um diese Zeit hielt auch die Beschäftigung mit der Vogelperspektive in der Literatur und Malerei Einzug.

Ein anderer Künstler, der vom Traum des Fliegens beseelt war, ist der in Basel geborene Maler Arnold Böcklin. Kunstinteressierten bekannt als der Schöpfer von symbolistischen Meisterwerken wie «Die Toteninsel» (erste Fassung von 1888), widmete er sich «neben seiner Kunst» und in der Zeit nach 1870, als sein Ruhm als Künstler international gefestigt war, vermehrt seinen Flugstudien und -versuchen in Italien und Berlin. 1881 begann er den Bau eines ersten Flugapparates in Florenz. Böcklin interessierte sich weniger für Technik und mathematische Richtigkeit seiner Apparate, als für die Verwirklichung seines Traums: die Fiktion des Fliegens in die Wirklichkeit zu überführen.

Sein zweiter Flugversuch, der kaum weiter als ein Sprung war, klingt nach einem halsbrecherischen Unterfangen: Böcklin hielt dabei einen leinwandbespannten Rahmen waagrecht über dem Kopf mit beiden Händen fest. Mit kräftigem Anlauf flog er damit über einen Festungsgraben.

Ob man seine Versuche als dilettantische und wissenschaftsfeindliche Schwärmereien abtut oder als Ausdruck seines weiten Ideenhorizonts versteht: Der Kunst des Fliegens mit einem Bild über dem Kopf beikommen zu wollen, zeugt von einer furchtlosen, absoluten Faszination, die Böcklin für den Vogelflug gehegt hat, und mutet aus heutiger Sicht wie ein Performance-Art-Happening an. Über die Kunst pflegte Böcklin zu sagen: «Jedes Bild ist ein neuer Versuch auf gut Glück.» Und dieses Glück bewahrte ihn vor schlimmen Unfällen, wenn er mithilfe des Windes in einem seiner Flugapparate vom Campo Caldo, einem sanft abfallenden Hügelfeld bei Vigliano, zu starten versuchte.

Hoher Flug, tiefer Fall

Wer aber hoch fliegt, fliegt mit dem ­Risiko, umso tiefer zu fallen. Das lehrt uns Menschen nicht nur die Finanzkrise, sondern schon der antike Mythos vom Erfinder und Künstler Dädalus und seinem Sohn Ikarus, in dem der Letztere entgegen der Mahnung seines Vaters zu nah an die Sonne fliegt und das Wachs, welches die Federn seiner Flügel zusammenhält, schmilzt. Ikarus stürzt ins Meer in den Tod. Der Hochmut, so lehrt uns der Mythos, mit menschlicher Kraft in Gefilde der Götter vorzudringen, wird hart bestraft. Der Traum des Fliegens aber lockt zu immer neuen Taten. Und zieht sich als produktives Motiv wie ein roter Faden durch die Jahrhunderte der Künste.

Ob all der Technik, die heute die Luftfahrt zu einem der sichersten Verkehrswege macht, vergisst man schnell die Inspiration und Sehnsucht, die der Traum vom Fliegen aus eigener Körperkraft auslöst – und den Erfindungsgeist, den er weckt. Trotz der permanenten Möglichkeit des Scheiterns. Die Kunst, die vom Traum des Fliegens getragen wird – sei es im Werk von Vladimir Tatlin, Leonardo da Vinci oder Arnold Böcklin –, lässt uns teilhaben an der weltverändernden Kreativität und der Fantasie derer, die das Unmögliche gewagt haben.

 

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 01.06.12

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