Der grosse Unvollendete würde 100: Orson Welles schuf als junger Mann mit «Citizen Kane» eines der bedeutendsten Werke der Filmgeschichte.
Mit einem Scherz wurde er in ganz Amerika berühmt – und Amerika liess ihn danach machen, was er wollte. Am 30. Oktober 1938, dem Abend vor Halloween, versammelten sich wie jeden Abend Millionen amerikanischer Familien vor dem damaligen Massenmedium: dem Radio.
In Amerika herrscht ein Klima der Angst, ausgelöst durch die Wirtschaftskrise und den drohenden Krieg in Europa. Die folgende Sendung des Senders CBS verstand es, sich die kollektive Verunsicherung für eine Radioreportage geschickt zunutze zu machen. Inszeniert als Live-Beitrag berichtete CBS von der Landung Ausserirdischer in den USA und deren Vernichtungsfeldzug gegen die Menschheit mittels eines tödlichen «Hitzestrahls».
Am Ende, als die Reportage vor dem scheinbar finalen Schlag der Ausserirdischen abrupt abbrach, trat Orson Welles, der Regisseur der Sendung, selbst ans Mikrofon. Und gab Entwarnung: «Sollte es an Ihrer Türe klingeln und niemand ist da, wenn Sie öffnen, so war es gewiss kein Marsmensch – sondern Halloween.» Die Auflösung kam zu spät, die Panik war da. Aus Angst vor dem «War of the Worlds», so der Name der Sendung, griffen die Hörer zu ihren Giftgasmasken und verbarrikadierten sich in den Kellern, sie flohen in die Kirchen oder auf die Polizeireviere, sie wurden in den Krankenhäusern wegen Hysterie und Herzanfällen behandelt.
Orson Welles hatte eine Fiktion derart einfallsreich in Szene gesetzt, dass sie als Tatsachenbericht angenommen wurde. Diese Leistung schrieb Radiogeschichte. Und sie öffnete Welles die Türen zur grossen Geschichtenschmiede Hollywood. Orson Welles, das Wunderkind von knapp 25 Jahren, durchschritt sie, um einen zweiten Mythos zu schaffen: die Legende vom Aufstieg und Fall des Charles Foster Kane.
Finanzieller Misserfolg
«Citizen Kane», 1941 erschienen, gilt seit Jahrzehnten als bedeutendster Film des 20. Jahrhunderts. Welles schuf eine uramerikanische Aufstiegsgeschichte. Sie war angelehnt an eine zeitgenössische Biografie: diejenige des Medientycoons William Hearst. Wie Hearst schuf sich auch Welles‘ Kane ein Medienimperium, das ihn zum wahrscheinlich einflussreichsten Unternehmer seiner Zeit machte. Und Welles hat einige Details aus Hearsts Leben wie den gigantischen Schlossbau («Xanadu» im Film), den Privatzoo oder die Sammlung europäischer Antiquitäten derart unverschleiert übernommen, dass die Störfeuer nicht ausblieben.
Hearst belegte seine Medienanstalten mit einem Arbeitsverbot zu Welles‘ Film und startete dafür eine Schmähkampagne, die den Regisseur als Kommunisten diffamierte. Als sein Versuch, alle Kopien des Films aufzukaufen, um sie danach zu vernichten, scheiterte, übte er auf die Kinosäle finanziellen Druck aus.
«Citizen Kane» blieb somit, was den Kassenerfolg angeht, eine Enttäuschung – und diejenigen zeitgenössischen Kritiker, die nicht unter Hearsts Einfluss standen, kamen mit einem zwiespältigen Eindruck aus den Vorführungen raus.
Vom Skript über das Casting bis zur Regie hatte Welles bei seinem Spielfilmdebüt vollkommene Autonomie. Das nutzte er, um mit einigen der gängigen Konventionen des Kinos zu brechen. Die rückwärts aufgezogene Story, die formal dem Theater entnommene Inszenierung, die düstere Psychologisierung der Hauptfigur, deren Entfremdungsprozess kaum Anschluss für Identifikation liess – all dies waren neue narrative Techniken. Als Anhänger des europäischen Films – insbesondere des poetischen Realismus von Jean Renoir, den Welles als grössten Regisseur seiner Zeit bezeichnete, oder des deutschen expressionistischen Kinos von Friedrich Wilhelm Murnau und Fritz Lang – übernahm Welles von dort Stilmittel. So etwa die filmische Tiefenschärfe, Close-ups oder Weitwinkelaufnahmen, die im US-Kino vor Welles wenig bekannt waren.
Prophetischer Charakter
Die Reputation des Visionären, die «Citizen Kane» seither umrankt, verdankt der Film stilistisch daher zu weiten Teilen seiner europäisch geprägten Modernität, aber noch mehr seinem prophetischen Charakter für Welles‘ weitere Karriere. Wie seine bekannteste Filmfigur musste auch Orson Welles früh von seiner Familie Abschied nehmen. Als Hochbegabter erlebte er einen rasanten Aufstieg, dem eine unerfüllte Karriere folgen sollte. Einige seiner folgenden Arbeiten wie zum Beispiel seine europäischen Shakespeare-Adaptionen oder die klaustrophobisch inszenierte Verfilmung von Kafkas «Der Prozess» sind geschlossenere und reifere Werke als «Citizen Kane». Jedoch blieb diesen Arbeiten der grosse Zuspruch versagt. Und dort, wo die dominierenden Studios Welles noch engagierten, liess man ihn nicht nach seinen eigenen Vorstellungen gewähren.
Die Unerfülltheit, die Charles Foster Kane am Ende seines Lebens in der Erinnerung an die verlorene Kindheit spürt, spiegelt sich in Welles‘ Karriere wider. Eine stattliche Zahl seiner Filme blieb unvollendet. Zumindest der letzte, legendenumrankte Film, an dem Welles die letzten 15 Jahre seines Lebens gearbeitet hatte, soll in seinem 100. Geburtsjahr jetzt doch noch fertig werden: «The Other Side of the Wind».
1970 hat Welles das Werk begonnen. Es handelt von einem alternden Regisseur und erzählt gleichsam einen Film im Film. Wer Ausschnitte davon gesehen hatte, war begeistert vom ambitionierten Projekt. Doch ein jahrzehntelanger Rechtsstreit verhinderte die Fertigstellung und Veröffentlichung. Sollte dieser berühmte verschollene Schatz der Filmgeschichte tatsächlich noch dieses Jahr gehoben werden – es wäre ein verdienter Paukenschlag fürs Jubeljahr dieses Ausnahmeregisseurs.