Die Bühne des Riehener Wenkenparks war am zweiten «Stimmen»-Abend in fester Hand zausliger Hinterwäldler aus den Vereinigten Staaten. The Low Anthem legten ein Konzert hin, das überwältigte, für Gänsehaut sorgte und sogar ein paar Tränen fliessen liess.
Was ist bloss mit den Amerikanern los. Junge, oft mit Holzfällerhemd und Zauselfrisur ausgestattete Männer pflegen einen steinerweichenden Gesang zwischen nasal und Falsett, nehmen ihre Platten in Kirchen, einsamen Hütten und ausrangierten Fabriken auf. Zelebrieren einen schwermütigen Sound, der auf den Sechzigerfolk weist, aber auch Psychedelischem und Experimentellem Tür und Tor öffnet. Sie heissen Fleet Foxes, Bon Iver, Iron & Wine oder eben auch Low Anthem. Letztere gaben am Samstagabend im Wenkenpark eine überwältigende Hörprobe dieser neuen Innerlichkeit.
Doch reden wir zunächst von einem Ableger dieses magischen Neo-Folks, denn die Lust am Referenzieren auf die Sixties hat auch die Britischen Inseln erfasst. In Schottland sind die Trembling Bells seine Galionsfiguren. Wie ein Abbild der Fairport Convention, jener legendären Folkrockpioniere aus GB präsentiert sich das Quartett als Einstiegsband.
Drei unscheinbare, ernste Jungs um den Gitarristen und Gründer Alex Neilson agieren da fast verbissen hinter der Sängerin Lavinia Blackwall. Deren Name allein lässt auf eine imposante Erscheinung schliessen. Volltreffer: Mit smaragdgrünem Kleid, Diadem, dick aufgetragenem Kayal und rubinroten Lippen im bleichen Gesicht schwebt sie mit ihrem kristallenen Elfensopran über den verschrobenen Arrangements – ein stolzes Abbild jeder Folklady von einst. Nur das quietschrote Keyboard, aus dem sie eine Mischung aus Kirmes- und Kirchenorgelsounds entlässt, passt nicht so ganz ins Bild.
Fuzz-Effekte und majestätische Tonketten
Der Sound dieser «bebenden Glocken», manchmal etwas verwischt und undurchsichtig, greift alle Tugenden aus den frühen Tagen des Folkrocks auf: Neilsons Stromgitarre wummert mit kreisenden Fuzz-Effekten, Simon Shaws Schlagzeug und Mike Hastings‘ Bass malen lange Intros ohne festen Beat, und die schottisch inspirierten Melodien werden als verschrobene, mit Triolen und Schleifen geschmückte, majestätische Tonketten durch den Verstärker geschickt.
Viele Tempiwechsel, vom Walzer zur stolzen Ballade, von freier kollektiver Improvisation zu vorwärtspreschendem Vierertakt begleiten die beeindruckende, doch immer etwas unnahbar bleibende Show. Die sich zweimal auch in ganz schlichte Huldigung an die Tradition löst: Blackwall und Shaw intonieren da plötzlich traditionell anmutendes Liedgut a cappella.
Album aus der Nudelsaucenfabrik
Wer seine letzte Platte in einer alten Nudelsaucenfabrik aufgenommen hat, der pfeift auf Konventionen, so sollte man meinen. Das wird bei Low Anthem nicht nur ohren-, sondern auch augenfällig. Als das Quintett aus Rhode Island auf die Bühne kommt, wird sofort die klassische Aufstellung aufgelöst. Man steht seitlich oder gar mit dem Rücken zum Publikum, schiebt Mikros herum, tauscht die Instrumente.
Da kommt sofort sympathischer Werkstattcharakter rüber, als probiere die Band im laufenden Konzert ständig neue Konstellationen aus. Doch das Kollektiv um Sänger und Gitarrist Ben Knox Miller schafft es bei all dieser amorphen Choreographie, eine fast sakrale Atmosphäre entstehen zu lassen.
Wie ein ozeanisches Klangfluidum
«Die haben viel Zeit, wehren Sie sich nicht dagegen», hatte Festivalleiter Helmut Bürgel in seiner Ansage gewarnt. Und wirklich: Zeit ist in diesen Songs ein magisches Element, neben ihren «Brüdern» Raum und Fläche. Die E-Gitarren von Miller und Tyler Osborne spielen keine Melodien, sie erzeugen ein weites, ozeanisches Klangfluidum, über dem sich die Stimme des Leaders dylanesk-nasal und doch fast zart erhebt.
Waldhorn und Trompete (Mike Irwin) rufen weihevoll in die Arrangements, das hammered dulcimer aus den Appalachen klöppelt einen filigranen Unterbau, und die Zwischenspiele auf der Klarinette von Jocie Adams leuchten in die Dämmerung hinein. Mal liefert der ruhige Atem der Pumporgel den Puls, mal donnert Jeff Prystowsky seine Rhythmen mit wuchtig scheppernder Langsamkeit aus den Drums. Man taucht widerstandslos ein in diese fantastisch räumliche Dramaturgie, die vom satten Wall Of Sound bis in feingewobene Kleinzelligkeit reicht.
Letztere kommt immer dann zum Tragen, wenn Miller zu einer zerfurchten Akustikgitarre greift, sich mit Adams und Prystowsky vorne an die Bühne stellt. Dann singen sie andächtig in etwas, was wie ein altes Kohlemikrophon aussieht, suchen mit fast wisperndem Vokalsatz das alte Amerika. Erzählen das Roadmovie von der «Ghost Woman», rufen als Auswanderer verzweifelt Charles Darwin an, betrauern eine verflossene Liebe auf dem Weg nach Ohio.
Besonders da bekommt man eine Ahnung, was mit diesen jungen Empfindsamen los ist, im Land der auch nach Obama enttäuschten Hoffnungen. Sie geben mit ihrer Zugabe, jener berühmten Leonard Cohen-Hymne, selbst eine Art Antwort: «Like a bird on the wire, like a drunk in a midnight choir, I have tried in my way to be free.» Und kippen dann – halb verzweifelt, halb lustvoll – in ein anarchisches Cover des Countryklassikers «Cigarettes, Whiskey and Wild Wild Women». Nach dem Konzert ist unter den Zuhörern oftmals von Gänsehaut, von Tränen gar die Rede. Untröstlichkeit kann grosse Musik entstehen lassen.