Der Beatles-Biograf Hunter Davies hat Briefe, Notizen und Einkaufslisten von John Lennon veröffentlicht. Fehlt es unserer Zeit so verzweifelt an neuen Ideen?
Fünfzig Jahre Rolling Stones», «Fünfzig Jahre 007», «Fünfzig Jahre The Beatles» – als einer, der soeben 49 Jahre alt geworden ist, will mir die jüngste Runde an Jubiläen nicht ganz passen. Die Medien könnten ebenso gut schreiben: «Hey, auf diesem Planeten sind richtig aufregende und bedeutsame Dinge passiert, und du hast es leider knapp verpasst. Ha, ha.»
Wer kann den Urknall erklären?
Wenn es schon keine Zukunft mehr gibt, was ist dann naheliegender, als Jubiläen zu feiern? Die Tatsache, dass eine bestimmte Anzahl an Jahren seit dem Auftreten eines Ereignisses vergangen ist, scheint ihm eine bestimmte Gewichtigkeit und Würde zu verleihen. Wir sind Kinder des Widerhalls. Geboren kurz nach einer Art Explosion und dazu verdammt, uns ein Leben lang rückwärts durch die Vergangenheit zu arbeiten, um so nah wie möglich an diesen Moment des Urknalls heranzukommen. Ein Kosmologe würde Ihnen erklären, er wisse, was eine Billionstelsekunde nach dem Urknall passiert ist. Aber den Urknall selbst kann er immer noch nicht erklären.
So geht es auch dem passionierten Beatlesologen: Wie haben es diese vier Jungs nur geschafft, die Erde zum Beben zu bringen? Werden wir es jemals erfahren? Vielleicht kann dieses Buch zur Klärung beitragen: «The John Lennon Letters: Erinnerungen in Briefen», herausgegeben von Hunter Davies, dem Mann, der die allererste Beatles-Biografie geschrieben hat (vor vielen Jahren – damals, Sie wissen schon, als es sie noch gab). Der älteste Brief ist von 1951, der letzte von 1980. Alles spielte sich zwischen diesen Daten ab – Hamburg, Beatlemania, Ed Sullivan, the Maharishi, John und Yokos Friedenskampagne, Imagine … – und Lennon fand nebenbei noch Zeit, Briefe darüber zu schreiben? Grossartig! Naja … nicht ganz.
«No Fucking George»
Fairerweise muss man sagen, dass Hunter Davies im Vorwort einräumt, dass er «die Definition des Wortes ‹Brief› ziemlich ausgeweitet» hat. Damit ist der Leser jedoch nicht annähernd auf Juwelen wie diese vorbereitet:
- «Degs, No Fucking George, Yer Cunt, Jack» (Brief 238: Notiz an Derek)
- «Fred, Lights in kitchen (bulbs), Honey Candy, Kitchen Air Con is ‹On Heat› (Something Wrong), Cabbage, Grape-oil (ask where), Onions, Peas (NB the Korean Shop Shells Them!), Sesame Oil, Tomatoes, Berries, Yoghurt, Hamburger Meat (for the cat!)» (Brief 255: Haushaltsliste für Fred).
Wer braucht die Post-it-Nachrichten von John Lennon? Ich mag die Alltagsrealität – man könnte sagen, sie ist mein Spezialgebiet –, aber hier kommt keiner um die Tatsache herum, dass wir es im zweiten Fall mit einer Einkaufsliste zu tun haben. Fehlt es uns wirklich so verzweifelt an neuen Ideen, dass wir es nötig haben, John Lennons Shopping-Verhalten zu studieren?
Der Schlüssel liegt vielleicht in den Quellen, die Davies für sein Buch benutzt hat: Die meisten Briefe stammen nicht aus dem Besitz der Empfänger, sondern von privaten Sammlern, die sie auf Auktionen erstanden haben. Über die Jahre, seit sie geschrieben wurden, haben sich diese Notizzettelchen in bares Geld verwandelt. Wir haben es mit wertvollen Objekten zu tun.
Entsprechend ist jedes Dokument als Foto abgebildet und mit einer Kurzfassung des Inhalts versehen. Das Foto sagt: «Schau, dieses Stück Papier ist Tausende von Pfund wert! Eine berühmte Person hat es einmal berührt!» Und vielleicht ist diese Botschaft in der Tat wichtiger als der Wortlaut des Briefes selbst. Das Buch ist eher eine Ansammlung religiöser Reliquien als eine wie auch immer geartete Biografie. Oder vielleicht ist es am Ende auch einfach eine besonders schicke Version eines Sotheby’s-Katalogs.
Die Beatles schissen auf das Establishment
Bin ich zu streng? Um eines klarzustellen: Ich liebe die Beatles. Ich habe zwar kein Kind nach ihnen benannt, aber ich liebe sie wirklich. Sie sind die erste Band, über die ich so richtig Bescheid wusste. Als Teenager bin ich manchmal den ganzen Tag zu Hause geblieben und habe Radio gehört, in der Hoffnung, ich würde einen Song von ihnen erwischen, den ich noch nicht kannte, um ihn mit meinem Kassettenradio aufzunehmen. Als ich letzte Woche einen neuen Plattenspieler kaufte, nahm ich zum Probehören «Abbey Road» mit. Das entscheidende Kriterium für das neue Gerät war: Diese Aufnahme sollte gut darauf klingen.
Was die Beatles aber vor allem ausmachte, ist, dass sie so gewöhnlich waren. Vier Liverpooler Jungs aus der Arbeiterklasse, die bewiesen haben, dass sie nicht nur eine Kunst erschaffen können, die den Vergleich mit der Kunst des Establishments nicht scheuen musste – ihre Kunst schiss auf das Establishment.
Aus den Reihen der vermeintlich ordinären, ungewaschenen Barbaren ging die grösste kreative Kraft des 20. Jahrhunderts hervor. Das war so nicht vorgesehen. Es wurde nicht offiziell befürwortet. Es passierte einfach – und das wiederum gab unzähligen jungen Menschen mit einem ähnlichen Hintergrund den Mut, es auch zu versuchen. Der Einfluss der Beatles auf die Musik und die Gesellschaft als Ganzes ist nicht zu ermessen. Ich falle also ganz eindeutig in die Zielgruppe dieses Buches – aber irgendetwas passt nicht.
Britpop war zum Scheitern verdammt
Britpop (ich kann kaum glauben, dass ich dieses Wort freiwillig niederschreibe) kann an dieser Stelle vielleicht endlich einmal zu etwas nütze sein, wenn auch nur als Erklärungsmuster. Meine Generation fühlte dieses seltsame Stechen – dieses Gefühl, etwas Fantastisches verpasst zu haben. Also haben wir versucht, es nochmals geschehen zu lassen – genau das Gleiche. Aber es gibt keine Karaoke-Version einer sozialen Revolution (auch wenn der Versuch Spass macht).
Was hatte sich in der Zwischenzeit geändert? Warum war Br**pop zum Scheitern verdammt? Wir hatten uns zu viel Wissen angeeignet, und wir hatten zu viel Ehrfurcht. Dieselben Klamotten zu tragen und dieselben Drogen zu nehmen machte uns noch nicht zu Beatles.
Und Bücher wie dieses (neben vielen anderen, das gebe ich zu) befördern solche Fehler. Die Beatles wussten nicht, dass sie die Beatles waren. Die Beatles hatten keinen Entwurf oder Plan, dem sie folgten, aber sie hinterliessen 213 Songs, von denen kaum einer schlecht ist. Mehr muss man nicht wissen. Wirklich. Aber mittlerweile ist das relativ bescheidene Œuvre überschattet von all dem «bisher Ungesehenen» und dem «Making-of»-Blödsinn, der notwendig ist, um den Leuten alle Jahre das Gleiche zu verhökern.
Lennon hat den Rang eines Halbgottes erlangt
Lennon selbst schien ständig bemüht, solche hohen Meinungen von ihm zu dämpfen. Ich kann nur raten, was er von diesem Buch halten würde. Die Briefe zeigen einen ganz gewöhnlichen Menschen, der ganz gewöhnliche Dinge tut: Einkaufslisten schreiben, Postkarten schicken, sich nach Verwandten erkundigen. Warum ist das interessant? Weil diese Person jetzt den Rang eines Halbgottes erlangt hat. Ob es gut ist? Ich weiss es nicht – aber er ist ein guter Sänger. Und ein ziemlich guter Songwriter. Punkt.
Hunter Davies aber macht auch nur seinen Job. Ich habe das Buch gelesen, und wahrscheinlich werde ich es zu Weihnachten verschenken. Wir, die Kinder des Widerhalls, sollten es besser wissen. Es ist Zeit für etwas Neues. Imagine that.
- «The John Lennon Letters: Erinnerungen in Briefen», herausgegeben von Hunter Davies, Piper Verlag, Fr. 53.90.
Quellen
© Guardian News & Media Ltd. 2012, Übersetzung: Katharina Weikl
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 02.11.12