Die radikale Poesie der Plakatabreisser

Was vor der Graffitiwelle geschah: Das Museum Tinguely eröffnet mit der Ausstellung «Poesie der Grossstadt. Die Affichisten» einen lohnenswerten Einblick in die Avantgarde der Street Art.

Von der Strasse auf die Leinwand: «Rue de Tolbiac – Le crime ne paie pas (1962) von Jacques Villeglé (Bild: Galerie Georges-Philippe & Nathalie Vallois © 2014 , Zürich)

Was vor der Graffitiwelle geschah: Das Museum Tinguely eröffnet mit der Ausstellung «Poesie der Grossstadt. Die Affichisten» einen lohnenswerten Einblick in die Avantgarde der Street Art.

Das Museum Tinguely präsentiert die Affichisten. Die was?, werden sich jetzt wohl viele fragen. Zumindest hier in der Schweiz, aber auch in Deutschland. Denn in Frankreich ist die künstlerische Strömung recht populär und die Werke der Künstler François Dufrêne, Raymond Hains, Jacques Villeglé, Mimmo Rotella und Wolf Vostell sind in den wichtigen Sammlungen moderner Kunst präsent.

Dass das Museum Tinguely nun die Affichisten, die zum Teil wie Jean Tinguey zur Künstlergruppe der Nouveaux Réalistes gehörten, erstmals in der Schweiz in einem umfassenden Rahmen zeigt, ist höchst erfreulich. Es lohnt sich sehr, Bekanntschaft mit dem radikalen und subversiv-poetischen Kunstkosmos zu machen, der nach dem Zweiten Weltkrieg in Paris entstand.

Décollage oder Abreisskunst

Die Arbeiten der Affichisten sind mit den gängigen Kunstbegriffen nicht einfach zu beschreiben: Das Œuvre ist radikal, subversiv, poetisch und mit dem Einbezug von Lautmalerei, Performance, Happening, Fotografie und Film ausgesprochen spartenübergreifend. Ihre Werke sind in den allermeisten Fällen sehr farbig, manchmal abstrakt, oft aber mit gegenständlichen Elementen versehen oder gänzlich figurativ.

Sie erinnern zum Teil an Gouachen oder Collagen, sind es aber (zumeist) nicht, weil der Hauptarbeitsgang zumindest bei den späteren und eigentlich typischen Werken nicht darin besteht, Elemente zusammenzufügen, sondern sie abzunehmen beziehungsweise abzureissen. Es sind also Décollagen.

Avantgarde der Street Art

Der Weg zum Kunstwerk besteht aus einem eigentlich kreativ-zerstörerischen Prozess. Die Affichisten wandern durch die Grossstadt, gehen zu den Plakatwänden, lesen sie und reissen Plakatfetzen oder ganze Plakate herunter, die sie später zu Kunstwerken werden lassen oder zusammenfügen: zu mehr oder weniger dekonstruierten Abbildern der plakatierten Konsum- und Kulturwelt, aber auch zu gänzlich abstrakten Kompositionen.

In einem gewissen Sinne könnte man die Affichisten als Avantgarde der zeitgenössischen Street Art bezeichnen. Wie die Graffiti-Künstler lassen sie ihre Kunst auf der Strasse entstehen – mit dem Unterschied, dass das Werk letztlich nicht im urbanen Raum selber angebracht wird, sondern dass Elemente des urbanen Raums ins Atelier getragen werden. Gemeinsam ist den Affichisten und den Graffity-Künstlern, dass sie sich bei ihrer Arbeit nicht von der Polizei erwischen lassen durften oder dürfen.

Parcours durch eine künstliche Stadt

Das Museum Tinguely hat für die Präsentation der Affichisten eine Art künstlichen Stadtraum geschaffen mit Gassen, Strassen und Plätzen, durch die man flanieren kann: vorbei an Einführungspräsentationen der fünf beteiligten Künstler und raus auf grössere Plätze, auf denen die Werke nicht nach den einzelnen Schöpfern (oder Kooperationen), sondern thematisch angeordnet sind.

Besonders aber auf diesen «Plätzen» präsentiert sich das Museum mit seinem Raum-im-Raum-Konzept so museumshaft wie es bislang noch nie zu erleben war. Das liegt nicht nur an der Ausstellungsarchitektur, sondern in erster Linie an der Werkzusammenstellung.

Gediegene Ausstellungsräume

Das wird im grössten Saal, der mit dem Thema «Abstraktion» überschrieben ist, besonders deutlich. In diesem Raum sind die grossformatigen abstrakten Werke der Affichisten zu sehen. Dass Museumsdirektor Roland Wetzel inoffiziell vom «Amerikanersaal» spricht, ist durchaus nachvollziehbar. Denn auf den ersten (und eigentlich auch auf den zweiten) Blick wähnt man sich tatsächlich in einer gediegenen Gemäldegalerie-Ausstellung mit den Klassikern des Amerikanischen Expressionismus.

Und spätestens hier wird klar, wie grossartig das malerische und bildhafte Potenzial der Werke ist, die aus aussortierten und zum Teil bearbeiteten Abrissen von Plakaten bestehen. Das setzt sich auch in den anderen Ausstellungs-«Plätzen» fort, die zum Beispiel mit «Pop» und «Politik» überschrieben sind.

Die Affichisten, das ist eine künstlerische Strömung, die man kennenlernen sollte. Und es ist eine schlicht berauschende Ausstellung.

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«Poesie der Grossstadt. Die Affichisten» im Museum Tinguely. Bis 17. Januar 2015.

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