Die Schule als Fegefeuer der Animositäten

Regisseur Sebastian Nübling, eine Klasse der Basler Schule für Brückenangebote und die Schauspielerin Cathrin Störmer schaffen mit der Bühnenadaption von François Bégaudeaus «Die Klasse» im Schauspielhaus ein Stück Theater, das mit seiner kunst- und kraftvollen Authentizität unter die Haut geht.

Die Klasse auf der Theaterbühne (Bild: Judith Schlosser)

Regisseur Sebastian Nübling, eine Klasse der Basler Schule für Brückenangebote und die Schauspielerin Cathrin Störmer schaffen mit der Bühnenadaption von François Bégaudeaus «Die Klasse» im Schauspielhaus ein Stück Theater, das mit seiner kunst- und kraftvollen Authentizität unter die Haut geht.

«Bilden Sie einen Satz im Futur II passiv», verlangt die Lehrerin von der Klasse. Von der Klasse, die – «kei Ahnig» – zuerst einmal gar nichts versteht (und wir im Publikum, seien wir ehrlich, auch unsere grosse Mühe haben). «Dörfe mir uffs WC?», fragen die zwei, «die ganz dicke miteinander sind», wie die Lehrerin eingangs erzählt. Sie dürfen. Aber die richtige Antwort bleibt aus.

Es kommt dann doch irgend einmal ein Satz, aber im normalen Futurum. Und im Aktiv. Zum Futur II reicht es nicht. Erst recht nicht im Passiv. Und wenn die Lehrerin dann nachgibt und die Lösung sagt, bekommt sie zur Antwort: «Voll Mittelalter» und: «So etwas sagt man doch nicht!» Entspricht ja auch der Wahrheit, aber der Lehrplan besagt, dass man es erst mal beherrschen muss, bevor man zum Schluss kommen kann, dass das Futur II passiv so manieriert klingt, dass man es nur sehr selten oder eigentlich gar nie zu hören bekommt.

Im Wandtafelraum

Wir befinden uns in der Schule. In einer Basler Klasse des Jahres 2013, bestehend aus 15 jungen Frauen im Alter von 15 und 16 Jahren und einem später dazustossenden männlichen Klassenkameraden. Die Klasse gibt es wirklich, sie besucht die Schule für Brückenangebote im Schulhaus Letzi. Die Klasse wurde, so steht es im Programmheft, speziell für diese Theaterproduktion zusammengestellt, ist aber unter dem Strich eine normale Klasse, die den normalen Lehrplan absolviert.

Nun ja. Wir befinden uns eigentlich im Basler Schauspielhaus und sehen uns einem Klassenzimmer gegenüber, das leicht aus der gradlinigen Guckkasten-Achse verrutscht ist (Bühne: Muriel Gerstner). Und das rundum von Wandtafeln umgeben ist, die im Verlauf des Abends viele heftige und kräftige Kreidespuren erhalten.

Schlachtfeld Schule

Wir sehen uns dem alltäglichen Schlachtfeld Schule gegenüber, das von Pädagogen, Psychologinnen, Eltern, Integrationspolitikern, Schulreformerinnen und den Medien so oft und breit beschrieben wird. Und das vom französischen Lehrer, Punksänger, Romanautoren und Schauspieler François Bégaudeau in seinem Roman «Entre les murs», der später mit ihm in der Hauptrolle verfilmt wurde, so eindrücklich unidealistisch und mit beklemmendem Zynismus dokumentiert wurde.

Bégaudeaus Roman spielt in einer Multikulti-Klasse aus einem Pariser Vorort. Die Basler Version von «Die Klasse» emanzipiert sich vom französischen Umfeld und stellt sich ganz auf Basler Verhältnisse ein. Und auf das tatsächliche Umfeld und Leben der Schülerinnen und des Schülers, die man auf der Bühne erleben kann.

Zynische Arroganz

Was von der Vorlage bleibt, ist die gebrochene Autorität des Lehrers – beziehungsweise in diesem Fall der Lehrerin –, der oder eben die dem gruppendynamisch aufgeladenen, passiven und zuweilen (auch gar nicht mal so nihilistischen) aktiven Widerstand der Klasse oftmals nur noch mit verächtlicher Arroganz zu begegnen vermag. Die einerseits bedauernswert überfordert ist, sich aber auch – nicht ganz unberechtigt – dem Vorwurf ausgesetzt sieht, dass sie ihre Schülerinnen auflaufen lässt, sie «verarscht».

Cathrin Störmer verkörpert diese Lehrerin in einer faszinierenden Intensität und Glaubwürdigkeit. Wir erleben einen Menschen am Rande des Burnouts, der sich aber immer wieder von neuen aufzuraffen versucht, sich dann aber aus der Verzweiflung über das Unvermögen, den Schülerinnen den Schulstoff zu vermitteln, in Sarkasmus und Verachtung gegenüber der Klasse flüchtet.

Frau Thomas, so der Name der Bühnenfigur, ist keine Vorzeigelehrerin eines didaktischen Lehrstücks. Sie ist auch nicht das bedauernswerte Opfer oder das verachtenswerte Monstrum, sondern eine Figur, die zwischen diesen Extremen hin- und herschlingert, was nicht gut gehen kann. Wie sie immer wieder mit verkrampft-erstarrtem Gesichtsausdruck durch uns Zuschauerinnen und Zuschauer hindurchblickt, bekommt man es beinahe wirklich mit der Angst zu tun, dass da ein überhitzter Dampfkochtopf kurz vor der Explosion steht.

Gebrochener Naturalismus

Ihr gegenüber und um sie herum steht und wuselt das vielköpfige und undurchschaubare Gebilde der Klasse, gefangen im haltlosen Raum zwischen Zickenkrieg und Hoffnungslosigkeit, aus dem sie aber dann heraustritt, wenn es darum geht, sich gegen die Lehrerin zu verbünden. Etwa dann, wenn der Lehrerin das Wort «Schlampe» herausrutscht, was, wie wir erfahren, für die Jugendlichen wohl die schlimmste aller Beleidigungen ist.

Regisseur Sebastian Nübling gelingt das Kunststück, den echten Schülerinnen und dem Schüler auf der Bühne auch über intime Momente ein Höchstmass an Authentizität zu entlocken, ohne sie als Personen wie im Menschenzoo auszustellen oder sie zu entblössen. Es gelingt ihm nicht zuletzt dadurch, dass er den aufwühlenden Naturalismus den die Szenerie durchaus hat, stetig bricht. Indem er die Klasse in regelmässigen Abständen zur grossen und mitreissend präzise und kraftvoll agierenden Bewegungs-, Sprechgesang-, Action-Painting- und Rhythmus-Truppe zusammenschweisst.

Trügerisches Happy End

Dem fulminant aufspielenden Ensemble auf der Bühne gelingt es, ein Bild der Illusionslosigkeit zu vermitteln, ohne in die absolute Desillusionierung abzudriften. Gegen Ende lässt Nübling sogar ein kleines Stückchen Hoffnung durchschimmern, wenn einige der Schülerinnen davon berichten, dass sie ihre Zukunftstäume doch noch nicht ganz aufgegeben haben. Am Schluss entsteht so ein kurzer Moment der Idylle eines harmonischen Schulalltags – ein aufgepfropftes Happy End, das aber ganz bewusst vom Schimmer des Trugbildes eingelullt ist.

Sebastian Nübling, die Schülerinnen und Schülern des Letzischulhauses und die Schauspielerin Cathrin Störmer haben mit «Die Klasse» ein starkes Stück Theater geschaffen, das unter die Haut geht. Fünf Viertelstunden, die fesseln und zugleich wohl mehr über unsere Schule aussagen, als all die theoretischen Schriften, die zur Rettung unseres scheinbar angeschlagenen Bildungswesens verfasst werden. Prädikat: Sollte man erlebt haben.

Theater Basel und Junges Theater Basel
«Die Klasse»
nach dem Roman und Drehbuch von François Bégaudeau
Regie: Sebastian Nübling, Bühne: Muriel Gerstner, Kostüme: Ursula Leuenberger, Sound: Polly Lapkovskaja
Mit: Cathrin Störmer und den Schülerinnen und dem Schüler der Schule für Brückenangebote (Letzischulhaus) Basel (Asia di Savin, Ariane Schweizer, Celine Gerber, Delal Kanas, Delia de los Santos-Antonuzzo, Fabienne Götsch, Florentine Kaczmarek, Lorenz Meyer, Marija Jeremic, Muriel Ziörjen, Nadia Guerrero Ragaglia, Rona Riniker, Sabia Ismaili, Sascha Bitterli, Yaren Peker, Nadege Chivor)
Weitere Vorstellungen: 21., 22., 30., 31. Dezember 2013, Schauspielhaus

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