Olivia Wiederkehr zeigt an der Regionale starke Kunst – im wahrsten Sinn des Wortes: Sie verwendet Material, das sonst Kampfjets in Schach hält.
«Warten. Glauben. Hoffen.» steht in der Beschreibung zum auffälligsten Regionale-Werk, das die FABRIKculture in Hégenheim momentan ausstellt: Ein rotes Boot, zur Seite gekippt, gehalten von einer Anzahl kräftiger weisser Bänder. Man staunt. Und sofort kommen die Fragen:
Geben die Bänder dem Boot Halt oder zwingen sie ihm eine unnatürliche Position auf?
Drücken sie es zu Boden oder bewahren sie es vor dem Kippen?
Und umgekehrt? Stützt das Boot die Bänder oder überdehnt es sie?
Dann plötzlich: Moment. Ein Boot. Warten, Glauben, Hoffen. Das muss was mit Flüchtlingen zu tun haben.
Oder?
Halt oder Restriktion? Olivia Wiederkehrs «Warten. Glauben. Hoffnen.» schürt Fragen. (Bild: Alexander Preobrajenski)
Olivia Wiederkehr schüttelt den Kopf und erzählt lachend von einem Zeitungsartikel, in dem sie jüngst als «Flüchtlingskünstlerin» bezeichnet wurde. Das funktioniere natürlich als Erklärung, ganz klar, nur sei «Warten. Glauben. Hoffen.» entstanden bevor die Flüchtlingsthematik die breite öffentliche Aufmerksamkeit erhalten habe. Dass das kleine rote Boot auf so explizite Weise rezipiert wird, findet die Künstlerin interessant: «Es ist eindrücklich mitzuerleben, wie sich ein Werk immer wieder in einen neuen Kontext einfügt und Aufmerksamkeit erhält.» Trotzdem: Mit Flüchtlingen habe die Arbeit nun wirklich nichts zu tun.
Womit dann?
Jede Interaktion öffnet einen Raum. Künstlerin Olivia Wiederkehr ganz untypisch – ohne Lachen. (Bild: Alexander Preobrajenski)
Dazu muss man etwas ausholen: Olivia Wiederkehr lernte Dekorationsgestalterin, war einige Zeit als Kostüm- und Bühnenbildgestalterin am Theater St. Gallen tätig, dann als Bildhauerin in Berlin und schliesslich am Institut für freie Kunst der Zürcher Hochschule der Künste, wo sie 2014 das Masterstudium abschloss. Dazwischen Ausstellungen, Malerei und immer wieder Performance-Projekte, in denen jenes weisse Band – im Industrie-Jargon «Webbing» genannt – eine Rolle spielte: als Gespann über dem Kunstpavillon im Garten der Universität Bern oder als Grenzmarkierung in einem Zürcher Park.
Die Bänder sind von der Schweizer Armee, die daraus Auffangnetze webt – um F/A 18 auf kurzen Landebahnen vor dem Crash in Einfamilienhäuser zu bewahren, wie Wiederkehr später bei Kaffee und Mineralwasser erzählt. Auffangnetze für Kampfjets? Das ist ja besser als in jedem Film! Die Künstlerin lächelt und nickt, ihre grünen Augen funkeln: «Crazy, oder?»
Die Kampfjet-Bänder machen nicht nur einen signifikanten Teil ihrer Arbeit aus, sie spiegeln auch ihre Faszination für das Verhältnis von Mensch und Natur. «Der Mensch will stets die Natur bezwingen und für diesen Wettkampf muss er sich rüsten, er braucht Schutzhüllen, wie Kleidung oder Zelte. Er muss Räume schaffen, die ihn einerseits von der Natur abgrenzen, andererseits mit ihr in Verbindung setzen.» Sie nimmt einen Schluck Mineralwasser. «Wir bauen Schutzräume, nicht nur haptische, auch mentale, um ein Bewusstsein dafür zu schaffen, was um uns herum passiert.»
Genau mit diesen Räumen setzt sich die Künstlerin in ihrem Werk auseinander. Unter «Räume» versteht sie nicht nur kammerartige Gebilde, sondern etwas, das geschieht, wenn ein Mensch mit seinem Umfeld agiert: «Sobald wir aufeinandertreffen, entsteht ein ephemerer Raum.» Wiederkehr zeigt auf ihr Wasserglas und den Kaffee. «Wir beide hier schaffen für kurze Zeit einen Raum und wenn ich dann auf den Zug zurück nach Zürich muss, lösen wir diesen Raum auf.»
Raum im Raum im Raum im Raum: Wiederkehrs Zeltinstallation an der Regionale 2014.
Es sind allgegenwärtige Momente, Räume, die man ständig neu aufbaut und abbricht, in die man eindringt und sich wieder hinausschleicht. Sie können unterschwellig und ephemer sein, flüchtig wie jene unserer Begegnung, oder aber explizit – wie die orangefarbenen Zelte oder High-Tech-Schlafsäcke, die Wiederkehr immer wieder für Performances und Installationen einsetzt. Aus Materialien, mit denen man sich vor der Natur schützt, während man versucht, ihr so nahe wie möglich zu kommen. Und dabei immer wieder realisieren muss, dass sich der Raum zwischen zwei Entitäten nie ganz auflösen wird. Man kann nur versuchen, ihn so spürbar wie möglich zu machen.
Wenn wir uns jetzt nochmals vors Boot stellen, ist es plötzlich gar nicht mehr so wichtig, ob es nun niedergeknüppelt, geschützt, gerettet oder gefangen ist, ob es das Thema Flüchtlinge zitiert. Die Diskussion findet woanders statt, und zwar da, wo sie angefangen hat: beim Titel. «Warten. Glauben. Hoffen.» Er öffnet nicht nur den Raum, sondern verbalisiert unser Verhältnis zu ihm, zum Boot, zur Kunst, ja, zum Leben. Man wartet: Wie lange hält diese Konstruktion? Hofft: Bitte, lass sie halten. Und glaubt: Ja, sie hält.
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Regionale 16, FABRIKculture, 60, rue de Bâle, F-68220 Hégenheim, bis 10. Januar 2016.