Dorothee Elmiger hat einen Roman über Flüchtlinge in der Schweiz geschrieben. Für die Migranten eine Stimme zu finden, erwies sich als kaum lösbare Aufgabe. Doch Schweigen ist keine Option.
Dorothee Elmiger hat es mit ihrem Debutroman weit gebracht: «Einladung an die Waghalsigen» landete 2010 auf dem 2. Platz des Bachmann-Preises und wurde für den Schweizer Buchpreis nominiert. Nun hat sie mit «Schlafgänger» einen zweiten Roman vorgelegt, in dem es um Grenzen geht, um Migration und die Art, wie die Debatte darüber geführt wird. Was jedoch fehlt, ist die Stimme der Betroffenen. «Die Position der Flüchtlinge einzunehmen fände ich anmassend», erklärt Elmiger. Sie traut der Authentizität nicht, die sich einstellen würde, wenn sie den Migranten das Wort gäbe.
Frau Elmiger, das zweite Buch nach einem erfolgreichen Erstling ist gefürchtet. Was war die Schwierigkeit beim Schreiben?
Das Schwierige war, mich in der Rolle als Schriftstellerin zurecht zu finden. Das Schreiben selbst findet dann an einem ganz anderen Ort statt. Sobald ich am Text arbeite, geht’s. Es war nur schwierig wieder anzufangen.
Eine Figur in Ihrem Buch findet es unerträglich, dass «die missliche Lage an der Grenze ihr schrifstellerisches Kapital darstellt.» Wie wurde das Thema Migration trotz dieser Vorbehalte Thema Ihres Romans?
Es ist ein Thema das im Moment ganz offensichtlich vor einem liegt und so dringend ist, dass man sowieso darüber schreibt, nachdenkt oder redet. Diese Passage schildert auch mein eigenes Problem, über dieses Thema zu schreiben. Man könnte ja sagen: Es ist etwas, dass mich nicht direkt betrifft. Trotzdem eigne ich mir das Thema an und «benutze» es für meinen Text. Ich kann nur aus meiner Warte darüber schreiben. Es war für mich sehr schwierig zu beantworten, wie man damit umgehen kann, oder ob man es überhaupt kann. Eigentlich müsste es eine Öffentlichkeit für die Stimmen geben, die in meinem Buch schon wieder nicht vorkommen. Also für die Menschen, die in die Schweiz kommen und von der Situation an der Grenze direkt betroffen sind. Ihre Position wollte ich nicht einnehmen – ich könnte es auch nicht und fände es anmassend.
Sie können die Realität nicht abbilden, wie sie ist. Das müsste als Schriftstellerin auch nicht Ihr Anspruch sein.
Diese Schwierigkeit ist für mich stark an dieses eine Thema gebunden. In der öffentlichen Diskussion wird immer über «die Anderen» gesprochen. Ich wollte mit meinem Buch diese Diskussion nicht wiederholen. Es ist kein grundsätzliches Problem für mich. Und ich habe mich ja entschieden, das Buch trotzdem zu schreiben. Der Text ist nun eher ein Nachdenken darüber, wie denn überhaupt geredet wird.
Ein Journalist im Buch sagt: Man kann zwar die Situation der Menschen an der Grenze nicht nachvollziehen, aber es ist dennoch wichtig, sich für diese Situation zu interessieren.
Genau. Ich finde, es geht auch mich etwas an. In unserer demokratischen Gesellschaft haben nicht alle die gleichen Rechte, die sich hier befinden. Dadurch kann auch ich weniger hinter dieser Demokratie stehen.
Ihr Roman ist gespickt mit wahren Begebenheiten, die sich in der Schweiz zugetragen haben. Zum Beispiel kommt das Schwimmbad in Bremgarten vor, zu dem Asylsuchenden im Sommer der Zutritt verweigert wurde. Wie kamen Sie auf diese Bezüge?
Viele dieser Zeitungszitate hatte ich schon, als ich anfing zu schreiben. Ich habe zu Hause eine grosse Sammlung aus Magazinen, Prospekten, Zeitungsartikeln. Ich bin jemand, die immer alles behält. Zusätzlich dazu mache ich mir Notizen. Häufig fällt mir dann während dem Schreiben etwas in die Hände und ich denke: Das gehört eigentlich auch dazu. Häufig erschliessen sich die Zusammenhänge, während man an etwas arbeitet. So ist vieles wie von alleine in den Text geflossen.
Dieses Sammeln und Notieren klingt nun doch sehr journalistisch. Warum haben Sie nicht mit den Betroffenen selbst geredet?
(Denkt lange nach) Ich glaube nicht, dass ein authentisches Schreiben möglich ist. Zum Beispiel ein Interview, das ich verwende, ohne es zu verändern – Ich traue dem nicht, dass es mehr sagen kann als etwas Abstrahiertes. Für mich ist das Bewusstsein wichtig, dass mein Text künstlich ist und er nicht versucht, die Realität zu simulieren. Ich habe mich zum Beispiel bewusst dagegen entschieden, Informationen von Freunden zu verwenden, die selbst solche Geschichten erlebt haben.
Ein Ort, der in «Schlafgänger» eine grosse Rolle spielt, ist Basel: Der Hafen, die Flughafenstrasse und die Elsässerstrasse. Wieso?
Als ich noch in Deutschland studierte, kam ich immer in Basel an. Damals habe ich oft bei Freunden übernachtet. Sie wohnen direkt an der Grenze bei St. Louis. Es ist speziell, wie man dort so physisch die Grenze vor Augen hat. Auch beim Güterverkehr im Basler Hafen werden gewisse Vorgänge offensichtlicher als anderswo. Aber eigentlich könnte das überall in der Schweiz sein.
Im Buch beschreiben Sie, wie sich am Basler Hafen die Container stapeln, die vor kurzem noch in Shanghai oder Rotterdam waren. Heute kann man im Internet digital fast überall hinreisen. Das einzige was uns in der realen Welt davon abhält, ist unser Körper.
Genau. Am Anfang des Buches beschreibe ich, wie sich die Asylsuchenden an Häuserfassaden die Fingerkuppen abschleifen, damit sie in den Empfangszentren nicht identifiziert werden können. Daran sieht man, wie diese Menschen an ihren Körpern festgemacht werden. Das Abschleifen ist ein Versuch, diese Körper zum Verschwinden zu bringen. Auch in den Zentren werden ganz grundsätzliche körperliche Bedürfnisse angegriffen, zum Beispiel das Schlafen.
Die Literaturkritikerin Elke Heidenreich sagt, Ihr Roman sei Literatur, die aus Creative-Writing-Kursen kommt. Verletzt Sie das?
Nein. Ich denke, es ist ein Irrtum zu glauben, dass aus den Instituten etwas Vereinheitlichtes kommt. Das Gegenteil ist der Fall. Die Abgänger grenzen sich noch viel mehr von einander ab, und es entstehen verschiedene Ansätze. Wenn, dann sind es die Verlage, die nur Einheitliches publizieren.
Ihr Buch ist sehr anspruchsvoll. Bereuen Sie nicht, dass Sie damit Leser abschrecken?
Es ist nicht so, dass ich mich hinsetze und sage: So, jetzt schreibe ich etwas extrem Kompliziertes. Diese Form ergab sich für mich zwingend aus dem Material. Natürlich kann es irritierend sein, wenn man beim Lesen die üblichen Fragen wer, wo und wann nicht beantworten kann. Ich finde aber, man könnte auch viel selbstbewusster lesen. Wenn ich selbst beim Lesen drei Seiten lang nichts verstehe, dann sage ich: Egal. Und lese einfach mal weiter. Ich fände es schön, wenn man Texte auch mal über ihren Rhythmus oder Tonfall zu verstehen versucht. Natürlich verstehe ich Leute, die einen wahnsinnig anstrengenden Job haben und am Abend noch ein wenig lesen möchten. Dann ist mein Buch vielleicht nicht das richtige. Die Wünsche an Literatur sind einfach sehr unterschiedlich.
Die Figur des Logistikers leidet an Schlafproblemen und Ihr Roman heisst «Schlafgänger» – benannt nach Menschen, die sich während der Industrialisierung für ein paar Stunden in ein fremdes Bett eingemietet haben, weil sie sich kein eigenes leisten konnten. Wie beeinflusst Ihr Schlaf das Schreiben?
Ich schreibe meistens frühmorgens. Ich mache mir nur einen Kaffee und beginne zu schreiben. Zwischen dem Schlaf und dem Wachsein ist man in einem ganz weichen Zustand. Dann kommen oft die guten Ideen.
Nach dem Gymnasium in Appenzell begann Dorothee Elmiger in Zürich Politologie und Philosophie zu studieren, wechselte dann aber ans Literaturinstitut in Biel. Nach längeren Aufenthalten in Berlin und Leipzig wohnt die 28-Jährige wieder in Zürich. Ihr neuer Roman «Schlafgänger» erscheint im Dumont Verlag.