Die Unruhe, die uns leben lässt

Christoph Geiser, Autor aus Basel, hat mit «Schöne Bescherung» seine Familientrilogie beendet. Dazwischen liegen 35 Jahre, Geisers Coming Out und der Bruch mit bürgerlichen Schreibformen. Der Erzähler konfrontiert sich mit seiner Sterblichkeit – was ihm gleichermassen Angst und Heiterkeit bereitet.

(Bild: zVg)

Christoph Geiser, Autor aus Basel, hat mit «Schöne Bescherung» seine Familientrilogie beendet. Dazwischen liegen 35 Jahre, Geisers Coming Out und der Bruch mit bürgerlichen Schreibformen. Der Erzähler konfrontiert sich mit seiner Sterblichkeit – was ihm gleichermassen Angst und Heiterkeit bereitet.

Worum geht es hier? Nehmen wir das greifbare: Ein Flaneur in Berlin mit leichter Tabak- und Alkoholsucht hat die Angewohnheit, vor dem Modelleisenbahngeschäft eine Pause mit Zigarette einzulegen und dabei den Bahnen bei ihrer ruckeligen Fahrt zuzuschauen. Der Erzähler spricht als «wir», sodass wir glauben, er habe diese Pausentradition vielleicht mit seiner Frau. Was die Sache sehr liebenswert machen würde. Mit der Zeit stellt sich jedoch heraus, dass der Ich-Erzähler ein Wir-Erzähler ist, womit seine Schaufensteraufenthalte mit einmal sehr einsam werden.

Der Wir-Erzähler ist manchmal auch ein Ich-Erzähler, etwa wenn er von seiner Mutter spricht. Mit ihr flaniert er durch Basel auf der Suche nach einem Restaurant, was nicht einfach ist, da Madame schrecklich vornehm ist. Sind dies alte Erinnerungen? Scheinbar, denn bald ist auch die Grossmutter auf dem Plan, was sich jedoch als Traum herausstellt.

Worum geht es? Dem Klappentext lässt sich eine übersichtliche Inhaltsangabe des Buches entnehmen: Held verliert Mutter, ist selber schon über 60, findet sich in einer Sinn- und Körperkrise wieder sowie in einer unaufhaltbaren Reflexion über die eigene Vergänglichkeit. Als erstes scheiternder Besuch eines Berliner Fitnesscenters, dann Aufenthalt in Luxusklinik, schliesslich Erweckungserlebnis im Pariser Louvre. Am Schluss wieder Flanieren in Berlin, wo ihm die sehr lesenswerte Rezension im «Bund» eine «neu gewonnene Seelenruhe» attestiert.

Nichts davon ist falsch. Doch Geisers Text tut alles, um diese Art linearer Nacherzählbarkeit zu zerstreuen.

Das «Ich» hat keinen Ort

Es gibt keine Gegenwart in diesem Buch und folglich auch keinen Ort, der das Geschehen zusammenhält. Traum, Erinnerung, Erfindung treiben den Erzähler umher. Dem Text fehlt die Mitte. Verständlich, dass dem Erzähler das Wort «ich» nicht passt, behauptet es doch eine Einheit, von der hier nicht die Rede sein kann.

Das Umherschweifen findet sich in Geisers Sprache wieder. Hochgradig altmodisch kommt sie daher, dabei unvorhersehbar beweglich. Obwohl hier jemand aus einer anderen Zeit spricht, spürt man diesen Sprecher unmittelbar. Das Lesen ist eine Lust. Er beschreibt eine Szene, springt der Fährte eines Wortes auf, lässt sich auf Abwege führen, folgt Assoziationen, spinnt Metaphern fort. Die meiste Zeit weiss man kaum, welche Spur dieser Sprachspringer gerade verfolgt. Handlungsabläufe, umrissene Themen – sind nicht. Der Untertitel des Buches lautet: «Kein Familienroman». Alles bleibt Anriss, alles franst aus, ergibt keinen Roman sondern ein Gewebe des Abschweifens.

Dieser Nicht-Familienroman knüpft an «Grünsee» (1978) und «Brachland» (1980) an. In beiden stark autobiographischen Texten folgte Geiser, der aus gutem Basler Hause stammt, einem Stil des bürgerlichen Realismus. Sein neues Buch wird nun als Comeback gefeiert. Dazwischen liegt jedoch ein langes Ringen um stilistische und gedankliche Befreiung; etwa das 2008 veröffentlichte Buch «Wenn der Mann im Mond erscheint» mit dem sprechenden Untertitel «Ein Regelverstoss». Geiser schreibt darin über sein Leben als verkappter Homosexueller im Berlin der 80er-Jahre und bricht lautstark mit allen konventionellen Sprachmustern. Ganz offensichtlich gibt es kein zurück.

Das Winden vor dem Ziel

Sowie sich in «Schöne Bescherung» ein Erzählstrang durchzieht, windet sich die erzählte Handlung selbst mit allen Mitteln, ihr Ziel zu erreichen. So beim beharrlichen Versuch, den Louvre in Paris zu besuchen. Zunächst scheitert das Projekt, weil der Erzähler im Jardin des Tuileries stolpert und fällt – an einen Museumsbesuch ist nicht mehr zu denken. Ein weiteres Mal verfängt er sich im Bericht über die Anfahrt mit der Metro, ausserdem sind die japanischen Touristen ein stetes Hindernis. Weiter geht es mit Erinnerungen an Louvreversuche vor 25 Jahren.

Trotzdem schafft er es, man ist verwundert, ins Innere der Ausstellung. Dort packt ihn der Anblick einer 5000 Jahre alten Skulptur aus Ägypten. An ihrem gläsernen Blick, der die Zeiten überdauert, findet er den Gegenpol zu sich selbst, dessen Gedanken ausschliesslich um Sterblichkeit kreisen.

Vergänglichkeit, Tote im Traum, Begierde nach zu jungen Männern, Heimsuchung durch abgeschiedene Vorfahren: Dieses Gebiet formt die einzig durchgehende Achse im unkontrollierbaren Sprachfluss. Eine Konstante, die straucheln lässt.

Doch die Faszination für den zeitlosen Blick der ägyptischen Figur ist ebenfalls zweischneidig. Die Louvre-Passage schliesst mit den Sätzen: «Ein gläserner Blick in die Leere. Was bliebe da noch zu sagen?» Die Figur schweigt. Das Wort gehört den Sterblichen. Ob der Erzähler mit einer neuen Seelenruhe hervorgeht, darüber lässt sich streiten. Vielleicht ist es gerade die Unruhe, die ihn am leben und am sprechen hält. Sterblich, aber heiter.

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«Schöne Bescherung» erscheint im Offizin Verlag. 136 Seiten.

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