«Die Zeit sitzt uns im Nacken»

Martin Wigger, Tomas Schweigen und Simon Solberg sollten das Schauspiel des Theater Basels ein Jahr lang interimistisch führen. Jetzt ist Solberg weg, und Wigger und Schweigen können für zwei weitere Jahre planen. Wie lebt es sich im künstlerischen Provisorium?

Freuen sich auf zwei weitere Jahre als Schauspielchefs: Martin Wigger (l.) und Tomas Schweigen. (Bild: Hans-Jörg Walter)

Martin Wigger, Tomas Schweigen und Simon Solberg sollten das Schauspiel des Theater Basels ein Jahr lang interimistisch führen. Jetzt ist Solberg weg, und Wigger und Schweigen können für zwei weitere Jahre planen. Wie lebt es sich im künstlerischen Provisorium?

Aus eins werden drei und aus drei werden zwei: Vor einem Jahr ernannte Theaterdirektor Georges Delnon die beiden jungen Regisseure Tomas Schweigen und Simon Solberg sowie Chefdramaturg Martin Wigger zur Interims-Leitung des Basler Schauspiels. Aus dem Übergangsjahr werden nun drei Jahre, gleichzeitig schrumpft das Cheftrio nach dem Abgang von Simon Solberg zum Duo. Die beiden verbliebenen Spartenchefs Tomas Schweigen und Martin Wigger äussern sich im Interview mit der TagesWoche darüber, wie sie das Basler Schauspiel vom Provisorium in die Phase eines zeitlich beschränkten Neubeginns überführen.

Simon Solberg geht, aus der Dreier- wird eine Zweierleitung. Was ändert sich dadurch?

Martin Wigger: Eigentlich nicht viel. Wir werden unsere Arbeit in unserer Kontinuität fortsetzen. Das heisst, alles mit aufnehmen, von dem wir meinen, dass es gut war in der ersten Spielzeit, und dort Veränderungen vornehmen, wo es nicht gut lief. Es ist so, dass jemand aus der Leitung wegfällt, aber mit dem können wir umgehen. Es war ein Entscheid, den wir auf beiden Seiten mittrugen, der auf unterschiedlichen Vorstellungen zurückgeht, was die Leitungsfunktion angeht. Und ich möchte betonen, dass wir keineswegs im Streit auseinandergehen.

Tomas Schweigen: Wir sind ja nicht von heute auf morgen auf zwei Leitungsmitglieder geschrumpft. Was von aussen her gesehen als Einschnitt wahrgenommen wird, hat sich über die Spielzeit abgezeichnet. Martin Wigger und ich haben schon bei der Zusammenstellung des jetzigen Spielplans permanent zusammengearbeitet. Solberg war viel auswärts tätig, so dass wir bereits in dieser Spielzeit oft nur zu zweit tätig waren.

Heisst das, dass Sie beide die Leitungsfunktion eh schon mehr oder weniger alleine ausführten?

Wigger: Das hat sich so ergeben. Solberg hatte Verpflichtungen ausserhalb von Basel. Es war unglücklich für ihn, dass er vor allem zu Beginn der Spielzeit viel weg sein musste und dadurch viele Grundsteine gelegt wurden, an denen er nicht beteiligt sein konnte.

Sie halten, wie Sie sagen, in der zweiten Spielzeit an dem fest, was in der ersten gut war. Was war denn Ihrer Ansicht nach gut?

Wigger: Sehr gut war die Zusammenarbeit mit unseren Regisseuren. Natürlich mussten wir uns jetzt, um neue Energien freizusetzen, zum Teil auch für neue Namen entscheiden – das ist völlig normal. Ich denke, dass es uns gelungen ist, über unsere Regisseure eine lebendige Spielzeit zu entwickeln. Und wir verfügen über ein sehr gutes Ensemble mit viel frischer Energie. Das ist doch schon eine ganze Menge.

Das Schauspielensemble hat sich nun aber verkleinert. Ich zähle jetzt noch 19 Ensemblemitglieder, wovon 5 auf die eingebettete «Far a Day Cage»-Truppe fallen. Das sind drei weniger als in der aktuellen Spielzeit. Reicht das für diesen Spielplan, auf dem ja auch personalintensivere Stücke zu finden sind?

Wigger: Es kommen noch drei neue Ensemblemitglieder dazu, die wir noch nicht mit in die Spielzeitbroschüre mit aufnehmen konnten. Eigentlich haben wir das Ensemble gegenüber früher um zwei Stellen aufgestockt. Aber das ist noch immer nicht wirklich viel für das, was wir alles machen.

Schweigen: Wir werden auch mit Gästen arbeiten, aber wir erachten es für wichtig, ein starkes Ensemble aufzubauen, das sich entwickeln kann.

Zu den Regisseuren: Ich vermisse im neuen Spielplan einige Namen, die doch eigentlich einen guten Einstand hatten in Basel: Thom Luz zum Beispiel, Bettina Oberli oder Amélie Niermeyer.

Wigger: Wir können uns eine weitere Zusammenarbeit mit diesen Leuten gut vorstellen, wir haben uns von Ihnen auch nicht endgültig verabschiedet. Wenn nicht in der kommenden Saison, so werden sie möglicherweise die Spielzeit danach wieder hier arbeiten, die dann ja unsere letzte sein wird.

«Gewisse Sachen kann man nur machen, wenn man die Möglichkeit zu einer kontinuierlichen Weiterentwicklung hat.»

Tomas Schweigen

Die aktuelle Spielzeit wurde als Übergangsjahr angekündigt, jetzt wurden Sie für einen längeren Zeitraum verpflichtet. Sind drei Jahre genug Zeit, um über das ursprüngliche Provisorium hinaus eine eigene Identität fürs Basler Schauspiel zu entwickeln?

Wigger: Die Zeit sitzt uns schon sehr im Nacken. Wir mussten erst einmal neue Energien im Ensemble wecken. Dann wollen wir in einem nächsten Schritt mehr raus aus dem Theater gehen. Das alles muss in einem wahnsinnigen Beschleunigungsverfahren geschehen.

Schweigen: Dieses Beschleunigungsverfahren war zu Beginn unserer Arbeit noch gedrängter, weil wir ja ursprünglich von nur einem Jahr Übergangszeit ausgingen. Aber bereits in der Vorbereitungszeit kam dann die Idee auf, dass man das Ganze ja verlängern könnte. Länger heisst aber hier nicht lang, wir können nicht in einem Vierjahresrhythmus planen. Es sind jetzt zwei Jahre, vielleicht noch ein drittes. Das erleichtert die Arbeit natürlich nicht nur, denn gewisse Sachen kann man ja nur machen, wenn man die Möglichkeit zu einer kontinuierlichen Weiterentwicklung hat. Wir stehen vor der speziellen Situation, einerseits in einer gewissen Kontinuität zu denken, andererseits im befristeten Engagement auch eine Chance zu sehen.

Wigger: Wir arbeiten mit einem ehrgeizigen Ensemble zusammen, das auch in dieser kurzen Zeit etwas bewegen will. Erschwerend für unsere Arbeit oder Wahrnehmung ist aber die Tatsache, dass Direktor Georges Delnon in zwei Jahren geht. Die Folge davon ist, dass wir auf der einen Seite frische Energien entfachen, während man auf der anderen Seite auf die zu warten beginnt, die nach uns kommen werden.

Schweigen: Wir würden uns natürlich wünschen, dass wir voll für das wahrgenommen werden, was wir machen und die Aufmerksamkeit nicht auf das abschweift, was in zwei Jahren sein wird. Oder dass nicht alle über den Publikumsschwund sprechen, für den wir Neue ja nicht verantwortlich sind.

Wigger: So gesehen befinden wir uns gewissermassen in einem Provisorium, obwohl wir uns ganz und gar nicht so verhalten. Wir haben grosse Teile des Ensembles erneuert, die ganze Dramaturgie ausgewechselt. Wir haben alles verändert, was wir verändern konnten, um noch einmal etwas auf die Beine zu stellen. Die Zeit ist begrenzt, aber das was wir tun, ist alles andere als ein Absitzen der Restzeit.

«Wir wollen, dass Far A Day Cage eine eigene und erkennbare Kraft innerhalb des Spielplans bleibt.»


Martin Wigger

Worin liegt die Chance im befristeten Engagement?

Schweigen: Das Engagement an einem Theater ist eigentlich immer provisorisch; die allerwenigsten von uns haben Lebensverträge. Bewegung ist wichtig im Theater. Die Einbettung von «Far A Day Cage» ins Theater zum Beispiel ist ein Experiment, das nur befristet funktionieren kann. Auf einen länger dauernden Vertrag hätten wir uns nicht eingelassen. Wir wollen uns ja nicht in einem Ensemble auflösen. Wir sind im ersten Jahr bewusst unbekümmert in die Arbeit am Theater Basel eingestiegen und haben zusammen mit weiteren Ensemblemitgliedern Produktionen gemacht, haben uns angepasst. Jetzt ist es an der Zeit, einen Schritt weiterzudenken. Was bedeutet es für eine freie Gruppe, an einem Stadttheater zu arbeiten? Kann die Identität der eingemeindeten freien Truppe aufrechterhalten bleiben oder muss man sich mit dem Rest des Ensembles vermischen? Diese Fragen haben wir noch nicht wirklich beantworten können.

Was wird die Antwort auf diese Fragen sein?

Schweigen: Ich denke, dass es etwas von beiden sein muss. Im nächsten Jahr wird es nur zwei statt drei «Far A Day Cage»-Produktionen geben, was es uns ermöglichen wird, mehr laborhaft zu arbeiten, wie wir es uns gewohnt sind, und zu gucken, wie wir unseren Rhythmus finden. Es hat aber bis jetzt erstaunlich gut funktioniert mit dem Rest des Ensembles.

Wigger: Wir wollen ja, dass «Far A Day Cage» eine eigene und erkennbare Kraft innerhalb des Spielplans bleibt.

Dass sich eine freie Truppe für ein Projekt oder ein Jahr einbetten lässt, ist beinahe schon Trend an deutschsprachigen Bühnen. Bemerkenswert dünkt mich aber, dass die Eingemeindung auf zwei oder drei Jahre ausgedehnt wird. Ist es der Reiz, dass es sich als Ensemblemitglied mit festem Lohn halt doch angenehmer leben lässt?

Schweigen: Nein. Uns war immer klar, dass die Gruppe das Zentrum bleibt, dass wir uns nicht festbinden lassen. Bequem werden wollen wir nicht. Aber die Lust weiterzumachen, ist da. Wir haben gemerkt, dass es funktioniert und sind uns bewusst, dass wir uns noch verbessern und konsequenter auftreten können.

«Ich sehe mich hier dem besten Ensemble gegenüber, das ich bis jetzt erleben konnte.»


Tomas Schweigen

Ihre Aufgabe ist es ja nicht nur, Kopf Ihrer Gruppe zu sein, sondern eine Leitungsfunktion für das gesamte Schauspiel zu übernehmen. Funktioniert diese Doppelfunktion?

Schweigen: Ja, absolut. Es ist vielleicht eine paradoxe Situation für mich, einerseits für meine Gruppe da zu sein, andererseits Verantwortung zu haben für den gesamten Spielplan. Andererseits beinhaltet dies auch die Chance, dass das Ganze nicht auseinanderfällt.

Sie haben jetzt Ihr erstes Jahr fast hinter sich. Wie würden Sie die Identität des Basler Schauspiels beschreiben?

Wigger: Es ist schwer, eine Theaterarbeit oder einen Spielplan mit einem oder wenigen Stichworten zu umschreiben. Es ist Ihnen ja sicher auch aufgefallen, dass wir dieses Jahr schon und auch nächste Saison kein Spielplanmotto haben. Wir verzichten bewusst darauf, weil es so viele Themen gibt, die uns bestimmen und uns politisch bewegen. Was mich leitet, sind Begriffe wie Leidenschaft, Intensität oder Energie. Die Art, wie Tomas Schweigen ein Thema angeht, wie Volker Lösch das tut, macht mich neugierig. Das bringt mich und hoffentlich auch die Zuschauer diesen Themen näher, läuft darauf hinaus, uns wach zu schütteln.

Schweigen: Wir haben das Gefühl, dass sich hier einiges getan hat. Ich sehe mich hier dem besten Ensemble gegenüber, das ich bis jetzt erleben konnte. Alle Schauspieler, mit denen wir hier zusammenarbeiten, haben Lust, sich auf etwas Besonderes einzulassen.

Wigger: Das gilt auch für die Regisseure. Alle Regisseure haben sich darauf eingelassen, hier zu arbeiten, obwohl wir ihnen ja keine Garantie für eine kontinuierliche Arbeit geben konnten. Offensichtlich ist Basel noch immer ein guter Theaterstandort.

Sie haben nun auch Sebastian Nübling wieder einmal engagieren können. Und mit Barbara Weber eine interessante junge Regisseurin für eine Produktion ans Haus holen können. Wie kam es eigentlich dazu?

Wigger: Barbara Weber wollten wir eigentlich schon für die erste Spielzeit haben, das ging aber terminlich nicht. Und wir freuen uns, dass sie mit Dürrenmatts «Der Richter und sein Henker» eine ganz eigene Sicht und Ästhetik in den Spielplan bringen.

Sie haben ja auch Frisch und Gottfried Keller im Spielplan. Einige Schweizer Autoren also, die aber durchaus von europäischem Rang sind. Wie sehr ist dieser Spielplan auf Basel ausgerichtet? Könnte es nicht auch Theater für Düsseldorf sein?

Wigger: Er ist hier angedacht. Basel ist immer ein Thema, auch wenn sich das nicht unbedingt gleich im Titel zeigt und die Häufung der Schweizer Autoren auch nicht unbedingt unser bewusster Schwerpunkt ist …

Schweigen: … Aber sie ist schon vom Wunsch geprägt, hier in Basel oder in der Schweiz Theater zu machen. Der Spielplan könnte nicht überall so laufen. Er ist nicht zufällig entstanden.

«Calixto Bieito ist ‹Artist in Residence› und nicht Teil der Schauspieldirektion.»


Martin Wigger

Sie versprachen vor einem Jahr «Vollkontakt» zum Publikum und dass Sie mit dem Lastwagen raus aufs Land fahren werden, um auf Dorfplätzen Theater zu spielen. Das fand nicht statt. Jetzt haben sie nicht davon gesprochen. Lösen Sie das Versprechen nun im neuen Jahr unangekündigt ein?

Wigger: Zum Vollkontakt ist es durchaus gekommen, wir hatten mit Vaudeville und Expats zwei Aussenprojekte, die für den Theaterbetrieb sehr aufwendig waren. Auf das Lastwagenprojekt warten wir noch. Mal gucken, ob sich das realisieren lässt. Auch das Wohnungsprojekt fand nicht statt. Dazu brauchen wir mehr Zeit und mehr Kapazitäten. Aber wir haben vor hier nachzulegen.

Mit Calixto Bieto hat das Theater Basel einen neuen Hausregisseur, der nun auch im Schauspiel seine Spuren hinterlassen wird. In Teilen der Öffentlichkeit wird er bereits als Nachfolger von Solberg in der Schauspielleitung gehandelt . Was sagen Sie dazu?

Wigger: Bieito ist «Artist in Residence» und nicht Teil der Schauspieldirektion. Und er ist als Regisseur bei uns im Schauspiel tätig.

Schweigen: Da ist es scheinbar zu einem Missverständnis gekommen. Bieito ist nicht der Mann, der uns als Spin-Doctor unter die Arme greifen wird.

War es Ihre Entscheidung, Bieito als Schauspielregisseur zu engagieren?

Wigger: Nein, das war Georges Delnons Entscheidung.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 17.05.13

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