Diese Artistin arbeitet im Home Office

Als Luftakrobatin tingelte Anna Gattiker um die ganze Welt. Heute ist sie Regisseurin am Broadway Variété und bleibt zum Arbeiten auch mal zu Hause.

Anna Gattiker vor ihrem Wohnwagen. Einen weiteren Wohnsitz hat sie in Zürich.

(Bild: Alexander Preobrajenski)

Als Luftakrobatin tingelte Anna Gattiker um die ganze Welt. Heute ist sie Regisseurin am Broadway Variété und bleibt zum Arbeiten auch mal zu Hause.

Hinter dem Gartenbad St. Jakob lässt sich zurzeit heiteres Zirkusleben vermuten. Ein paar Dutzend Wohnwagen erstrecken sich auf der Wiese, in der Mitte thront ein grosses rotes Zelt mit einem altmodischen Kassenhäuschen. Nur die grinsenden Clowns und die waghalsigen Feuerschlucker sind nirgends in Sicht.

Stattdessen wartet eine moderne, fesch gekleidete Frau am Eingang: Anna Gattiker gehört zum Kernteam des Broadway Variété, ein Spiel- und Verzehrtheater mit Wurzeln in Basel. Zuschauer bekommen hier Akrobaten, Schauspieler und Musiker zu sehen, während sie selbst ein Dreigangmenü verdrücken.

Gattiker ist die künstlerische Leiterin, und damit alles andere als eine Zirkusprinzessin aus dem Bilderbuch. Sie zieht die Fäden im Hintergrund: «Meine Aufgabe ist, dramaturgische, darstellerische, sprachliche, musikalische und visuelle Elemente zusammenzufügen und einen roten Faden für die Show zu finden», erklärt sie.

Konzentration ist gefragt

Wie komplex die Planung der Show sein muss, erahnt man auf einen Blick, wenn Gattiker den Vorhang zum Inneren des Zelts öffnet. Überall mechanische Finessen: Auf einem Tisch ist ein drehbares Karussellpferd montiert, über dem Publikumsbereich schwebt eine Gondelbahn und Fallklappen im Holzboden führen unter die Bühne. «Vorsicht», warnt Gattiker als wir die Bühne betreten. «Es kann sein, dass der Zeltmeister noch nicht alle Bretter richtig befestigt hat.»

Für die Artisten ist auch während der Aufführung Vorsicht geboten. Viele Requisiten werden im Laufe der Show befestigt und wieder entfernt. Eine lockere Schraube oder ein unbefestigtes Seil – und schon droht ein Unglück.



Auf der Wiese hinter dem Gartenbad St. Jakob sieht es derzeit so aus.

Auf der Wiese hinter dem Gartenbad St. Jakob sieht es derzeit so aus. (Bild: Alexander Preobrajenski)

Ist da noch nie etwas schief gelaufen? Gattiker klopft auf den hölzernen Tisch: «Unfälle gab es bis jetzt zum Glück noch nie.» Sie versuche die Artisten darauf zu drillen, dass sie sich bewusst sind, sich stets konzentrieren zu müssen. Unpünktlichkeit oder gar Allüren haben da keinen Platz, denn das verzögert den Prozess, und Stress gibt es während den Proben schon genug.

Zwischen Luftring und Akrobatiknetz

Angefangen hat Gattiker ihre künstlerische Laufbahn auf der anderen Seite des Artistenlebens, nämlich als Tänzerin. An der ETH hat sie Sport- und Bewegungswissenschaften studiert, nebenbei belegte sie mehrere Tanzkurse.

Beides ist für die 42-Jährige ein abgeschlossenes Kapitel. In ihr habe schon damals die Künstlerseele gebrannt, doch geplant hat sie den artistischen Weg nicht: «Ich hatte schon immer eine Affinität für verschiedene Kunstformen», sagt sie. Und diese liess sie immer mehr in die Künstlerszene rutschen.

Bei einem ihrer vielen Tanzaufträge lernte Gattiker dann eine Akrobatin kennen, die sie in die Kunst der Luftartistik einführte. Ab sofort befand sich ihr Arbeitsort in einer Höhe von zehn Meter. Für ein Jahrzehnt bereiste sie als freischaffende Akrobatin die ganze Welt und versuchte sich an verschiedenen Requisiten. Irgendwo zwischen Luftring und Akrobatik-Netz realisierte sie: «Ich will nicht nur fremde Choreografien ausführen. Ich will auch eigene Ideen auf die Bühne bringen.»

Also begann sie, vermehrt in der Regie tätig zu werden. Schon nur der Gedanke an diese Arbeit zaubert ihr ein Lächeln ins Gesicht: «Man kann sich ausleben und alles, was einem in den Sinn kommt, auf die Bühne bringen», schwärmt sie.

«Das ist zu wenig hoch!»

In der Künstlerwelt kennen alle alle, sagt Gattiker. Das Broadway Variété hatte sie oft aus Interesse besucht und lernte schnell Jrma und David Schoenauer kennen, die damaligen Direktoren des Theaters.

Als Jrma Schoenauer sie im Jahr 2009 anstellen wollte, war Gattiker zunächst skeptisch: «Die Decke ist hier viel zu wenig hoch, so kann ich doch nicht arbeiten!», habe sie damals ausgerufen. Die Luftakrobatin war sich anderes gewohnt. Doch Schoenauer liess nicht locker. Mit Erfolg.



It's showtime: Das Broadway Variété Ensemble mit Anna Gattikers Ehemann Luca Botta in der Mitte.

It’s showtime: Das Broadway Variété Ensemble mit Anna Gattikers Ehemann Luca Botta in der Mitte. (Bild: Mischa Scherrer)

Während zwei Tourneen trat Gattiker als Luftakrobatin im Broadway Variété auf, halt etwas weniger weit oben in der Luft. Dafür übernahm sie nach der ersten Saison gleich die gesamte Inszenierung des Abends.

Als ihr Ehemann Luca Botta und die zwei Künstlerkollegen Raphaël Diener und Max Läubli im Jahr 2011 das Broadway Variété kauften, übernahm sie die Regie vollends. Die Praxis war ihr bester Lehrer für den neuen Job: «Alles, was ich in den verschiedensten Sparten von Bühnenproduktionen bis zu Fernsehauftritten gelernt habe, ist extrem wertvoll», sagt sie.

Homeoffice und Pendlerzug

Das diesjährige Programm des Broadway Variété handelt von einer durchgeknallten Hochzeit. Wie anders sieht es in Gattikers Privatleben aus: «Es hört sich immer so büromässig an, aber meine Arbeit beinhaltet tatsächlich viel Planung, Organisation und Kommunikation.» Wildes Zirkusleben? Von wegen. «Ich habe hier einen Wohnwagen, aber ich brauche auch einen festen Wohnsitz. Arbeiten kann ich auch im Homeoffice.»

Ein Luftibus ist Gattiker nicht, eher eine gut strukturierte Künstlerin und eine moderne Pendlerin. Doch manchmal wünscht sich die ordentliche Regisseurin ihr altes, verrückteres Künstlerleben zurück. «Ab und zu vermisse ich es, selbst aufzutreten. Auch das Reisen fehlt mir.»

Ob sie selbst wieder auf die Bühne treten wird, lässt sie offen: «Vereinzelte Aufträge als Artistin habe ich nach wie vor. Ich schliesse es nicht aus, wieder mehr aufzutreten.»

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Broadway Variété: La Strasse – echt abgefahren, Gartenbad St. Jakob Basel, bis 30. Oktober, von Dienstag bis Samstag, 11–14 Uhr und 17–18 Uhr.

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