Dieter Roths «Selbstturm»: Ein Kunstwerk, das ohne Ende entsteht

Gegenüber des Museums für Gegenwartskunst arbeitete einst Dieter Roth in einem Atelier. Übrig blieb ein Kunstwerk, das man in diesen Monaten endlich wieder einmal sehen kann.

Köpfe, Köpfe, Köpfe, stapelweise: Blick in Dieter Roths «Selbstturm/Löwenturm».

(Bild: © Dieter Roth Estate / Schaulager)

Gegenüber des Museums für Gegenwartskunst arbeitete einst Dieter Roth in einem Atelier. Übrig blieb ein Kunstwerk, das man in diesen Monaten endlich wieder einmal sehen kann.

Was haben zwei so unterschiedliche Künstler wie Dieter Roth und Joseph Beuys gemeinsam? Bei beiden war Leben und Werk untrennbar miteinander verknüpft. Bei beiden entstanden daraus neue und wegweisende Kunstformen, die gerade wegen der starken Künstlerpersönlichkeiten der Frage nach der Autorschaft nur einen Nebenschauplatz zuwiesen, zugunsten anderer, dringenderer Fragen.

Im Fall des 1930 geborenen Hannoveraners Roth rückt durch die Verknüpfung seiner Arbeiten mit ihren Produktionsbedingungen und der durchgängigen (Selbst-)Ironie ihres Schöpfers der Aspekt der Zeit ins Zentrum seines Kunstschaffens. Kaum eine Arbeit führt das so faszinierend vor Augen wie die Installation «Selbstturm / Löwenturm» von 1969/70–1998, die seit dem Ankauf durch die Emanuel Hoffmann-Stiftung im Jahr 1989 in einem eigens dafür angemieteten Raum gegenüber des Museums für Gegenwartskunst Basel untergebracht ist.

Normalerweise darf dort kein Publikum mehr rein – nur jetzt, während der grossen Sammlungsausstellung im Schaulager, wird der Turm jeweils sonntags geöffnet.

Köpfe aus Schokolade und Zucker

In der Mitte des kleinen Raums befindet sich links der «Löwenturm» und rechts der «Selbstturm». Bereits diese erste Zuschreibung unterwanderte Roth, indem er während des bis zu seinem Tod 1998 andauernden Entstehungsprozesses begann, die Büsten des «Selbstturms», die auf sein «Selbstporträt als alter Mann» von 1969 zurückgehen, mit den liegenden Löwenskulpturen des «Löwenturms» (ab 1970) zu kreuzen. Sodass nun dicht an dicht, zwischen übereinander gestapelten Glasplatten, kleine Skulpturen von Löwen und Selbstporträts aus Schokolade und Zucker mit ihren Köpfen die Lasten der auf ihnen gestapelten Kumpane tragen. Mitunter gleichen diese einer Sphinx, mit Löwenkörper und Menschenkopf, oder einem Pudel, mit Menschenkörper und Löwenkopf.

Köpfe, Köpfe, Köpfe, stapelweise: Blick in Dieter Roths «Selbstturm / Löwenturm».

Köpfe, Köpfe, Köpfe, stapelweise: Blick in Dieter Roths «Selbstturm/Löwenturm». (Bild: © Dieter Roth Estate / Schaulager)

Während die sich zersetzenden Materialien die Türme immer weiter nach unten absinken lassen, ist ein Teil der Glasplatten des Löwenturms bereits unter der Last der von oben drückenden Skulpturen zusammengebrochen, das Material auf den Atelierboden herausgequollen.

Jedes der zahllosen Porträts gewinnt durch die Vergänglichkeit der Materialien und die Anordnung der sich selbst erdrückenden Türme eine individuelle Ausdruckskraft. Ein stoisch in die Ferne blickender Pudelkopf etwa, der diese Würde durch seine absurde Form und die kindlich anmutende Schokoladenmasse konterkariert, trägt an seinem wurmstichigen Kinn unerschütterlich einen Bart aus Schimmelfäden, worin gleichzeitig etwas anrührend Hilfloses mitschwingt.

Immerwährender Prozess

Durch die Instabilität der Zucker- und Schokoladenmassen setzt Roth bewusst die Zeit als formendes Kriterium: Die Installation befindet sich unabschliessbar im Werden.

Die Türme sind mit an die zweieinhalb Meter Höhe bereits nahezu raumfüllend. Rechts von ihnen befindet sich eine Vitrine mit Prototypen der verschiedenen Formvariationen sowie das Büro Roths, wo er eine akribische Installationsdokumentation in Form von Kunstwerken, Polaroids, Aktennotizen und Videobändern aufbewahrte. Links ist die Küche eingerichtet, an der Roth bis zu seinem Tod weitergearbeitet hat, an einem im wahrsten Sinne des Wortes vielschichtigen Werk, das exemplarisch die Ausdruckskraft der werkkonstituierenden Zeit vor Augen führt – eng verknüpft mit ironischer Selbstreflexion, dem eigenen Entstehungsprozess sowie der künstlerischen Archivierung dieses Wandels.

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Die Installation ist im Rahmen der Ausstellung «Future Present» des Schaulagers Basel noch bis zum 31. Januar 2016 jeweils sonntags zu besichtigen. Anmeldung unter www.schaulager.org.

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