Die Basler Orchesterlandschaft bekommt Zuwachs. Ist da noch Platz? Der junge Dirigent Gevorg Gharabekyan erzählt, warum er «I Tempi» gegründet hat.
Gevorg Gharabekyan steht im Foyer des Unternehmens Mitte: Noch bevor sich unsere Hände zum Gruss erreichen, bietet er das Du an. Er war gerade dabei, am schwarzen Brett ein Plakat runterzureissen, mit dem eine Konzertwerbung von «I Tempi» überklebt wurde, obwohl das erste Konzert des neuen Kammerorchesters noch gar nicht stattgefunden hat. «Das ist nicht fair», sagt er. Das junge Ensemble braucht alle Aufmerksamkeit. Entsprechend erfreut ist Gharabekyan über das Interview. Er ist die Aufgeschlossenheit selbst, man ist sofort im Gespräch. Der gebürtige Armenier ist 30 Jahre alt, verheiratet und ausserdem Konzertmeister im Collegium Musicum Basel.
So, das Aufnahmegerät läuft.
Zum Glück bin ich eingesungen heute.
Willst du deine Antworten singen? Ich könnte meine Fragen trommeln.
Ja, machen wir das!
Zucker in den Kaffee?
Nein danke. Ich trinke schwarz.
Du trinkst viel Kaffee?
In letzter Zeit ja. Ich arbeite sehr viel. Ich fahre auf zwei Schienen, bin Geiger und Dirigent. Siehst du einen Geigenfleck?
Einen Hauch.
Ich tue alles, damit man ihn nicht sieht. – Ich muss auf beiden Schienen gut sein, es sind zwei Berufe.
Was lernt der Dirigent vom Geiger?
Als Geiger weiss ich, wie wichtig gute Stimmung im Orchester ist. Die Musiker spielen besser, wenn sie Spass haben. Anders funktioniert es nicht. Und ich habe eine Ahnung davon, wie man die verschiedenen Farben aus den Streichinstrumenten herausholt. Aber meine liebsten Dirigenten sind nicht Geiger. Carlos Kleiber war Schlagzeuger und Pianist, Claudio Abbado spielt ebenfalls Klavier.
Das Orpheus Chamber Orchestra spielt ohne Dirigenten. Braucht «I Tempi» überhaupt einen?
Nicht unbedingt. Aber wenn man mit einem Dirigenten spielt, sagt einer, wo es lang geht. Ohne Dirigent muss man sehr viel reden.
Du hättest das Ensemble auch als erster Geiger gründen können.
Ich hatte diesen Gedanken. Vielleicht werden wir mit manchen barocken und klassischen Stücken auch ohne Dirigent auftreten. Aber mein jetziger Traum ist es, zu dirigieren.
Was zeichnet das neue Kammerorchester «I Tempi» aus?
Unsere Spezialität ist ein Repertoire von Barock bis ganz modern, wobei wir auf den jeweils authentischen Instrumenten spielen. Es gibt nicht einfach alte und moderne Instrumente, sondern barocke, klassische, romantische. Ausserdem war die Bauweise je nach Region verschieden. Wir wollen die jeweilige Ästhetik herausarbeiten – natürlich mit modernem Geist.
Was heisst das?
Moderner Geist bedeutet für mich die Offenheit, das anzunehmen, was andere gemacht haben. Noch die 50er Jahre waren sehr viel konservativer.
Du sagst, du übernimmst alte Ästhetiken: Spricht daraus nicht eher ein konservativer Geist statt einem modernen?
Ich versetze mich in einem Teil eines Konzerts in den Geist eines Komponisten. Und noch im selben Konzert in einen anderen. Ich sage nicht: Ich spiele nur so! Oder nur so! Ich bin offen für die Verschiedenheit der Epochen, Regionen und Komponisten.
Spielt Ihr mit alten Instrumenten, weil es authentisch ist? Oder hat es in sich einen Reiz?
Das ist eine sehr gute Frage. Wir spielen nicht nur mit alten Instrumenten, sondern auch mit dem Wissen um historische Aufführungspraktiken. Es gibt viele erhaltene Schriften von den grossen Meistern, zum Beispiel Leopold Mozart oder Johann Joachim Quantz.
Quantz?
Moment, ich schaue nach (nimmt ein riesiges Smartphone zur Hand)
Ein Fernseher!
Ja. (lacht) Das ist der moderne Geist. Wenn man die Meister des 18. Jahrhunderts liest, bemerkt man viele Ähnlichkeiten in ihrem Denken. Es gab eine grosse Tradition des Improvisierens. Die Notentexte wurden sehr schlicht komponiert, sie enthalten keine Phrasierungen oder Dynamik. Die Musiker durften selber Verzierungen und eigene Kadenzen einbauen, sie waren sehr frei. Mit der Zeit schrieben die Komponisten ihre Werke immer detaillierter aus. Heute notieren sie alles.
Was heisst das für euch?
Wenn man barocke Musik genau so spielt, wie sie in den Noten steht, ist sie ziemlich primitiv. In historischer Aufführungspraxis wird sie wieder spannend. Dazu kommt: Man hat in vielen Schulen sehr wenig vibriert. Leopold Mozart schreibt: «Es ist geschmacklos, jede Note zu tremolieren». Vibrato war damals eine Verzierung, aber kein ständiges Schütteln wie heute. Originale Instrumente mit Darmseiten und klassischen Bögen haben an sich schon eine Klangfarbe, die nicht unbedingt vibriert werden muss. Die modernen Instrumente mit Stahlseiten klingen viel schärfer, da braucht es Vibrato, um den Klang weicher und runder zu machen. Es lohnt, originale Instrumente zu benutzen um zu verstehen, was die Meister damals gemeint haben.
Ihr werdet in euern Konzerten improvisieren?
Sofern alte Musik auf dem Programm steht, selbsverständlich. Allerdings nur die Solisten. Wenn die einzelnen Orchestermusiker das machen, klingt es lächerlich.
Sind moderne Komponisten Kontrollfreaks?
Sie können gar nicht anders. Was sie meinen, all die Klangfarben, Pizzicati, Kratzer, das lässt sich mit einem schlichten Notentext nicht notieren.
Ist mit der älteren Kompositionsart, schlicht zu notieren und viele Freiheiten zu lassen, etwas verloren gegangen?
Nein. Die Musik hat sich verändert. Man kann sagen: entwickelt. Obwohl heutige Musik nicht entwickelter ist als die von Bach. Debussy und Ravel sind mit ihren fantastischen Klangwelten so eigen, ich will sie mit Mozart nicht vergleichen. Zudem ist nichts verloren, es gibt nach wie vor sehr viel alte Musik zu entdecken. Gerade kürzlich ist ein Cellokonzert von Wolfgang Amadeus Mozart aufgetaucht.
Warum ein neues Kammerorchester in Basel?
Ich habe viele Freunde, die den gleichen Traum haben wie ich. Wir wollen Werke aus allen Epochen mit den jeweils originalen Instrumenten spielen. Wir wollen kein barockes oder modernes Orchester sein, sondern die Grenzen dazwischen aufbrechen.
Das macht auch das Kammerorchester Basel.
Ja, und sie machen es fantastisch. Aber wir wollen noch weiter differenzieren. Doch ich möchte unser Orchester nicht dem Kammerorchester gegenüberstellen. Man kann nebeneinander gute Sachen machen.
Die Konzerte der Basler Orchester sind nicht ausgelastet. Ist genügend Platz für ein neues Ensemble?
Ich hoffe es. Wir schauen. Unser Ziel ist es, so lebendig zu spielen, dass wir die Leute anziehen. Ich bin überzeugt, dass das klappen kann. Es gibt genügend Platz für jedes Orchester, es gibt nur nicht genug Geld. Doch wir werden von Stiftungen unterstützt und haben einen Verein gegründet, der wöchentlich wächst, obwohl wir noch nicht einmal gespielt haben. Das ist nicht nur eine finanzielle sondern auch eine moralische Unterstützung. Alle Orchestermitglieder spielen zudem in anderen Formationen oder unterrichten. Nächstes Jahr wird «I Tempi» 12 Konzerte spielen.
Wie sind die Musiker eigentlich zusammengekommen?
Ich kenne viele sehr gut und viele machen bereits zusammen Kammermusik. Fast alle haben in Basel studiert oder sind noch dabei. Wir sind zwischen 22 und 33 Jahren alt.
Ihr wechselt die Sitzordnung, warum?
Die Leute, die immer hinten spielen, haben mit der Zeit keine Lust mehr. Da wir bei «I Tempi» ausschliesslich gute Musiker haben, wechseln wir. So bleibt es spannend. Und wer erfahren hat, wie schwierig der führende Posten als Konzertmeister ist, hat Verständnis für seine Nachfolger.
Sollte nicht auch jeder mal dirigieren?
Gerne.
Wirklich?
Ja! Natürlich nicht im Konzert. (lacht) Es gibt bei uns zum Glück nur einen Dirigenten.
- Die ersten Konzerte von «I Tempi»: 22. Mai, 19:30 Uhr, Kirche St. Peter, Zürich.
- 24. Mai, 19:30 Uhr, Stadtcasino Basel.
- weitere Informationen auf der Homepage des Ensembles.