Der Basler Fotograf Edgar Gilgen ist ein Paparazzo der ersten Stunde – und will genau das nicht sein. Jetzt wird «Egge» 80 Jahre alt.
Da war dieser Bub. Er hatte eine Billigkamera in der Hand. Und wurde überrollt von Dutzenden Fotografen. Sie alle wollten Muhammad Ali ablichten. Der Boxstar drängte sie zur Seite – und zog den Buben zu sich. Der drückte ab, war zittrig. Muhammad Ali sah, dass die Billigkamera nur auf seine Füsse gerichtet war. Und gab dem Buben eine zweite Chance. Erst dann liess er die grossen Fotografen durch. Edgar Gilgen war an vorderster Front.
«Ich erinnere mich gut an den Tag im Jahr 1971», sagt Egge, wie Gilgen genannt wird. «Die Mittlere Brücke brach fast zusammen.» Zuvor hatte das Warenhaus Rheinbrücke bekannt gegeben, dass der Jahrhundertsportler vor dem Kampf gegen den Deutschen Jürgen Blin im Zürcher Hallenstadion zur Autogrammstunde nach Basel kommen würde. Gilgens Bild, auf dem Ali auf einer Minifasnachtstrommel spielt, ging um die Welt – oder zumindest durch die Schweiz.
Fred Spillmann war sein Mentor
Egge ist kein Profi. Er verdiente sein Geld 40 Jahre lang bei einer Exportfirma, wo er die Spedition leitete. In der Freizeit war er mit der Kamera unterwegs, oft dort, wo Prominente waren. Er überlegte sich, ob er eine Fotografenausbildung machen soll. «Du Mätz!», riet ihm ein Freund ab. «Wenn du das tust, verlierst du deinen Stil.» Gilgen hörte auf den Freund, der auch Mentor und Auftraggeber war: Couturier Fred Spillmann beschäftigte Egge als seinen «Hoffotografen». Egge war es auch, der Spillmann eine Stunde vor dessen Tod fotografierte – nicht ahnend, dass es das letzte Bild des Modeschöpfers sein würde.
Es gab jahrzehntelang praktisch keinen Anlass in Basel, an dem Egge nicht mit der Kamera auftauchte. «Aber immer auf Einladung», betont er. Daher sei er kein Paparazzo. «Die Leute wollen ja, dass ich die Anlässe fotografiere.» Vor allem Brautpaare rissen sich um Egge. Hunderte Hochzeiten dokumentierte er, darunter viele Promi-Hochzeiten. Sein Freund und «Berufskollege» Onorio Mansutti sagt: «Die Leute wollen einen wie ihn, dem man sagen kann: ‹Egge, mach mal ein Foto, bitte!›» Und Kolumnist -minu ergänzt: «Er scheint ein Gen für den richtigen Moment beim Abdrücken zu haben.» Seine Reportagen seien oft «um Klassen besser als die von Berufsfotografen». Jahrelang hat Egge -minus BaZ-«Traderaklatsch» fotografiert.
«Ich bin ein Messie»
Edgar Gilgens Dreizimmerwohnung im St. Johann ist ein geordnetes Archiv aus Hunderten Fotoalben, Kunst und Platten. «Ich bin ein Messie», sagt er, «ich werfe nichts weg.» Egal um welches Thema es geht – immer zückt er gleich ein Foto hervor oder ein anderes Souvenir. Das Ticket für den Boxkampf von 1971 steckt heute noch in seinem Portemonnaie; und ein von ihm herausgegebenes Heft mit dem Titel «Hopp FCB» aus dem Jahr 1969 trägt er seither in seiner Tasche mit.
«Die Fans haben mir das Heft damals aus der Hand gerissen», sagt Egge. Es zeigt zahlreiche Porträts von Spielern. Besonders interessant ist ein Foto, das nicht abgedruckt ist, aber zur Serie gehört. Darauf sind Karli Odermatt und andere Spieler beim Duschen zu sehen – und zwar so, wie Gott sie schuf. «Das darf aber nicht in der Zeitung kommen», sagt Egge – und lässt das Bild in der Tasche verschwinden.
Egges Jugend war schwierig. Er musste als Verdingbub im Emmental Ställe ausmisten, die Eltern tranken – und als 19-Jähriger landete er, sozusagen als Krönung, im Gefängnis. Die Polizei bekam Wind von seiner Beziehung zu einer 15-Jährigen. «Wir waren verliebt und noch so jung», sagt er heute.Aufwärts ging es erst mit dem Abschluss seiner Handwerkerlehre – und dem ersten Fotoapparat. Egge verbrachte viel Zeit im «Atlantis» und lernte Leute wie Onorio Mansutti kennen. Der sagt: «Es verkehrten zwei Sorten Menschen dort: Die einen kamen mit Papis Auto – wir hingegen nippten einen Tag an einer Cola, weil wir uns keine zweite leisten konnten.» Später kaufte Mansutti das «-tis» und Egge illustrierte ein Buch zur Geschichte des Lokals.
Reich wurde Egge nie. «Ich habe wenig oder gar kein Geld verlangt für meine Fotos», sagt er. Der einzige Luxus, den er sich bis heute leiste, seien Erstklassbillette für die Fahrten nach Ascona, wo er viel Zeit verbringt. Das Tessin kommt aber kaum vor in den Fotobüchern seiner Reisen. Es ist ein anderer Ort, den er fast penibel festgehalten hat: New York. Vierzig Mal war er dort, mal fotografierte er Tausende Plakatwände, mal Wolkenkratzer, die sich in Autos spiegeln. Und einmal, im September 2001, dokumentierte er die Trümmer des grössten Terroranschlags der Geschichte der USA. «Es war alles noch warm», sagt er. Und klingt traurig. «Es war schlimm.» Es gab aber auch Zeiten vor «Ground Zero», Zeiten der Unbeschwertheit.
Familie kommt an erster Stelle
Einmal war Egge mit seiner damaligen Freundin «drüben», als plötzlich Dutzende Vespas auf eine Stretchlimousine zufuhren. «Meine Freundin wusste gleich, dass wir da nicht wegkommen, bis ich wüsste, wer im Auto sitzt.» Egge «ellenbögelte» sich unter die Paparazzi – was zu Fuss nicht schwer war – und erkannte hinter der Scheibe Tenor Luciano Pavarotti mit Strohhut. Ein Foto mit Hut, das geht nicht, sagte sich Egge, und bat Pavarotti mittels einer Handbewegung, den Hut abzunehmen. «Er lächelte und nahm den Hut ab.» Das Bild ist nun Teil eines Buches, das Egge für sich selber hat machen lassen.
Es zeigt Highlights seiner Arbeiten und etliche Fotos seiner drei Kinder und seines Enkels. Es sind die Familienfotos, die er stets zuerst zeigt. Die Promis kommen an zweiter Stelle. Geschichten weiss er zu jedem einzelnen Foto zu erzählen. Es sind die Geschichte hinter den Bildern, über Ferien mit den Kindern oder über den Fussballer Günter Netzer, der im Kleinbasel stolz vor seinem Ferrari Dino posiert, bevor er damit eine Stunde später einen Totalschaden verursacht. Die Kessler-Zwillinge wären für Egge «sogar in den Rhein gestanden», hätte er die Showstars darum gebeten. Von all den Prominenten, die Egge ablichtete, gibt es Bilder, auf denen die Promis zusammen mit dem Amateurfotografen posieren. «Es gab immer jemanden in der Nähe, der schnell abdrückte», sagt er.
Egge ohne Kamera – undenkbar
Ein Grossteil von Egges Archiv besteht aus Bildern aus einer Zeit, als Fotografen noch bangen mussten. «Drei Tage zitterte ich manchmal, bis ich die Fotos entwickelt hatte und wusste, dass etwas daraus wurde.» Heute trägt auch er eine Digitalkamera um den Hals. Er komme mit der Technik zurecht, soweit es nötig sei. Die Schattenseiten der digitalen Revolution sind für ihn dieselben wie für andere Fotografen. «Jeder hat inzwischen ein Handy mit Fotofunktion und kann seine Bilder selber schiessen – und erst noch gut.» Aufträge für Hochzeiten seien darum zurückgegangen. Trotzdem: «Würde mir jemand eine Reise nach New York schenken und verlangen, den Fotoapparat zu Hause zu lassen – ich würde absagen.»
Denn ein Egge ohne Kamera – das wird es auch nach seinem 80. Geburtstag am 16. August nicht geben.
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 27.07.12