Ein Bakterium am Rande der Gesellschaft

Wenn es im Kinosessel zu jucken beginnt – dann schaut man sich gerade «Feuchtgebiete» an. Die Verfilmung von Charlotte Roches Bestseller feierte in Locarno Weltpremiere. Man muss sie nicht gesehen haben. Man darf sie sich aber zumuten.

Ein Film, in dem Juckreize befriedigt werden, sei es so …

Wenn es im Kinosessel zu jucken beginnt – dann schaut man sich gerade «Feuchtgebiete» an. Die Verfilmung von Charlotte Roches Bestseller feierte in Locarno Weltpremiere. Man muss sie nicht gesehen haben. Man darf sie sich aber zumuten.

Der Boulevard hat den Film seit Tagen skandalisiert, ohne ihn gesehen zu haben: «So derb ist Feuchtgebiete» titelte der «Blick», und das Revolverblatt schoss aus vollem Rohr, als es behauptete, der Film sei in Locarno von der Piazza Grande in den geschlossenen Kinosaal Fevi verbannt worden. Völliger Unsinn. Der Film läuft im internationalen Wettbewerb um einen goldenen Leoparden – und wird daher wie alle Wettbewerbsfilme im Auditorium gezeigt.

Die Skandalisierung und Entrüstung durch den Boulevard – Bestseller-Autorin Charlotte Roche erlebt damit dieser Tage ein Déjà-Vu. Und ein Déjà-Entendu, wird sie doch am Sonntag an der Pressekonferenz vorwurfsvoll angegangen: Der Film sei unappetitlich. Unnötig. Sowas gehöre nicht auf die Leinwand, findet eine deutsche Journalistin.

Gemach, gemach.

«Feuchtgebiete» erzählt die Geschichte des volljährigen Scheidungskinds Helen. Sie fordert sich und ihr Umfeld heraus, um sich existenziell zu spüren. Von Hämorrhoiden geplagt, von der Provokation angetan und der Tabus überdrüssig, stellt sie mit ihrem Verhalten in der normierten Gesellschaft selber ein Bakterium dar. Ihr Coming-of-Age-Hintergrund wird im Film erweitert. Bausteine aus der Kindheit erklären, warum sie sich so verhält wie sie sich verhält. Diese Vertiefung der Figur ist Regisseur David Wnendt ganz ordentlich gelungen.

Sehnsüchte und Sexualität

Mit intimen Einblicken aus der Ich-Perspektive, Rückblenden und Montagen («Trainspotting» lässt grüssen) zeigt der Film, wie sich die androgyne Helen einerseits von ihren Eltern abgrenzt und zugleich ihre Nähe sucht. Sie ist 18 – und doch noch ein Kind, ein sehnsuchtsvolles, das sich die Eltern zusammenwünscht und von einem harmonischen Familienleben träumt. Ein enttäuschtes auch, das sich zurückgewiesen fühlt.

So dient ihr Sexualität denn auch nicht einfach der Befriedigung einer Lust, sondern als Substitut für die Liebe, für Wärme. Wir erleben ihre Experimentierfreude (sei es mit Gemüse, Mädchen, Jungs oder Drogen), ihre befreienden Spassmomente – aber je länger der Film dauert auch ihre grosse Einsamkeit und Leere.

Die Hauptdarstellerin hat im Tessin ein Heimspiel

Getragen wird all das von der famosen Leistung der Hauptdarstellerin: Carla Juri, 27, Tessinerin. In ihr fand Regisseur Wnendt, wonach er beim Casting gesucht hatte: «Eine Frau, die die Mischung aus Rebellion und Unschuld facettenreich auf die Leinwand bringt.»

Was die mitunter explizite Darstellung ihrer Handlungen angeht, die Körperflüssigkeiten, so kontert Axel Milberg (den man vor allem als Kieler «Tatort»-Kommissar kennt und hier den Vater spielt) angriffige Pressefragen in Locarno gekonnt: «Der erste Reflex mag sein: Das stinkt. Das tropft und pocht. Es ist krumm und nicht schön. Aber genau diese Sachen tragen wir das ganze Leben mit uns herum und korrigieren es, etwa mit Hygiene. Das ist doch das Interessante. Dass wir etwas anschauen, was noch immer tabuisiert ist. Wenn wir damit nicht umgehen können, befinden wir uns noch immer in einer kulturellen Oednis.»

Charlotte Roche: «Der Film wirkt befreiend»

Und was sagt Charlotte Roche zur Adaption? «Ich war sehr nervös, als ich den Film gekuckt habe. Und hätte nicht in meinen wildesten Träumen gedacht, dass er so unfassbar gut werden würde. Man lacht und weint viel – und geht raus mit der Erkenntnis, dass der eigene Körper nicht so hässlich ist. Der Film wirkt befreiend.»

Befreiend? Das ist Ansichtssache. Der weibliche Körper steht im Mittelpunkt, und manche Erfahrungen und Eigenschaften bleiben einem Mann rätselhaft (die Verwendung von Tampons – und der Austausch solcher, gebrauchter notabene). Vielleicht wirkt er auch nicht befreiend auf einen, weil man im Reinen ist mit seinem Körper.

Man muss den Film daher nicht gesehen haben. Aber man darf ihn sich zumuten, eintauchen in die Geschichte eines komplexen Mädchens, das körperlichen Komplexen den Mittelfinger zeigt und auf Hygiene pfeift. «Sie hat kein Problem mit ihrer Sexualität – sie geht ja sehr kreativ damit um», merkt Autorin Roche lachend an.

In diesem Sinn: Entscheiden Sie selbst, ob Sie sich den Trailer (und später den Film) anschauen möchten.

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