Teodor Currentzis wird als neuer Revolutionär der Klassikszene gehandelt. Der Grieche baute in Russland ein eigenes Orchester auf, fern von Dienstzwängen und Gewerkschaften – mit erstaunlichen künstlerischen Ergebnissen.
Teodor Currentzis (43) ist einer, der sich zu inszenieren weiss. Jedes der von ihm freigegebenen Fotos ist in einer eigenen Pose komponiert. Mal zeigt er sich als Rocker, mal als Dandy, mal als Poet. Auf der Bühne ist er alles zusammen und noch viel mehr: Schlagzeuger, Dompteur, Tanzmeister und ein Anführer, der auch mal seinen Mitstreitern ganz allein die Bühne überlässt.
So gesehen beim gediegenen Lucerne Festival zu Ostern, bei dem der Grieche mit seinem Ensemble Musica Aeterna kürzlich debütierte (SRF hat es übertragen). Es dauerte einige Zeit und mehrere Stücke, bis die feurigen Russen im runtergekühlten KKL das Publikum zum Klatschen animieren konnten. Bei Konzertende aber bewegten sich die Standing Ovations erst nach drei Zugaben Richtung Ausgang. Was war geschehen?
Rameau kann auch krachig gespielt werden
Currentzis hatte – nach der kurzfristigen krankheitsbedingten Absage einer Sängerin – einen reinen Rameau-Abend aufs Programm gesetzt. Erst 2014 feierte man Jean-Philipp Rameaus Jubiläum, doch auch sein 250. Todestag änderte wenig daran, dass die noch immer eher Kennerkreisen vertraute Musik des französischen Barockkomponisten auch in grossen Konzertsälen heimisch wurde. Currentzis könnte dies nun ändern.
In Luzern – und vor allem auch auf seiner neuen Einspielung – zeigte er, dass Rameau nicht nur duftig-parfümiert gespielt werden kann. Sondern krachig, rockig, mit massiven Bässen und schneidenden Geigen, aber auch mit zarten Pianissimi, die wie ein gehauchtes Liebesversprechen klingen.
Voraussetzung für diese hochkonzentrierte, dichte Interpretationsweise ist die besondere Beziehung zwischen Dirigent und Ensemble. Mit Musica Aeterna hat sich der gebürtige Grieche Currentzis in Russland einen Klangkörper geschaffen, mit dem er ganz nach seinen eigenen Vorstellungen arbeiten kann. Anfangs im sibirischen Nowosibirsk stationiert, drang sein guter Ruf bis nach Perm am Ural. Dort engagierte ihn ein musikliebender Gouverneur. Currentzis forderte viel – und erhielt, was er wollte: gute Bezahlung für alle Musiker, künstlerische Unabhängigkeit und völlige Freiheit bei der Arbeit ohne gewerkschaftliche Kontrolle.
Elektrisiert, aber nicht erzwungen
So können auf der Suche nach dem perfekten Klang die Proben schon einmal bis tief in die Nacht gehen – um die gelungenen Aufnahmen anschliessend in Clubs weiter zu feiern. Es gibt viele Solisten, Kammermusiker und Mitglieder der besten europäischen Orchester, die unbedingt bei Musica Aeterna mitmachen möchten, berichtet der Kontrabassist Hayk Khachatryan. Selbst die Stargeigerin Patricia Kopatchinskaja reihte sich für Currentzis in die Tutti-Geigen ein, um bei Mahlers dritter Sinfonie für einmal nicht als Solistin, sondern als Orchestermusikerin dabei zu sein.
Doch die Lust am Feilen und Suchen ist dabei nicht jedermanns Sache: Manch ein aus West- und Mitteleuropa zugereister Musiker fliegt auch nach zwei Tagen entsetzt wieder ab. Die meisten aber reihen sich begeistert ein, weil auch sie die freie Arbeit jenseits starrer Strukturen schätzen.
Doch Currentzis ist kein Guru. Dass er in seiner Arbeit seine Musiker als eigenständige Persönlichkeiten wahrnimmt, zeigte sich auch bei seinem Luzerner Gastspiel. Zwar folgten die Musiker wie elektrisiert Currentzis Dirigat, doch nichts von all dem wirkte erzwungen. Fast schien es, als seien diese Orchestermusiker befreit, endlich im grossen Stil Kammer-, – nein: Tanzmusik machen zu können.
So ist es nicht verwunderlich, dass immer wieder einzelne Werke an jenem Abend von kleineren Ensembles vorgetragen wurden, während sich Currentzis gemütlich auf den Bühnenboden setzte und gemeinsam mit den anderen Musiker in den hinteren Reihen zuhörte. Dabei wurde gezielt mit Lichteffekten gearbeitet, um die jeweiligen Musiken geschickt in Szene zu setzen – ein noch recht selten anzutreffendes Mittel der Konzertinszenierung, das in manchen Teilen der konservativen Klassik-Szene verpönt wird.
Das derzeit aufsehenerregende Grossprojekt von Currentzis: Die Neueinspielungen der drei Da-Ponte-Opern von Mozart. «Le nozze di Figaro» und «Così fan tutte» sind bereits erschienen. Currentzis erzählt im Booklet, wie allumfassend er die Meisterwerke Mozarts wahrnimmt, versteht den «Figaro» als Revolution der Gesellschaft, «Così» als Revolution der Liebe.
Und das versucht er musikalisch umzusetzen: Durch ein handverlesenes Gesangsensemble, das mit der Sopranistin Simone Kermes nur einen einzigen Star aufweist, sich ansonsten durch warme, weiche, unglaublich homogene Stimmen auszeichnet; durch ein verspieltes, vom Hammerklavier ausgehendes Generalbassensemble, das ganz neue Farben in dieser Musik aufzeigt; durch eine ungemein penible Arbeitsweise, die aus jeder Phrase ihre ganz eigene Schönheit lockt – und sich manchmal bis zur Ekstase steigert, dass es rockt.
Eines ist jedenfalls sicher: Teodor Currentzis mischt den Klassik-Betrieb gehörig auf. Er geht nicht wie manche seiner ebenfalls noch jung zu nennenden Kollegen – etwa der auf ganz andere Weise erfolgreiche Yannick Nézet-Séguin (40) – den Gang durch die Institutionen und arbeitet sich von Chefposition zu Chefposition immer höher. Sondern er folgt seinem musikalischen Ideal, das er am besten mit einem eigenen Ensemble und eigenen Arbeitsbedingungen realisieren kann. Seine CD-Aufnahmen gehören zu den Spannendsten und Radikalsten, die derzeit veröffentlicht werden. Die Kritiker überbieten sich in Lobeshymnen.
Am 3. Mai dirigiert Teodor Currentzis in Zürich das Zürcher Orchestra La Scintilla mit einem Rameau-Programm. Man sollte ihn sich ansehen und -hören, den fernen Gast aus dem Ural.
_
Zürich, Opernhaus: 3.5.2015, 20 Uhr.
Aufnahmen mit Teodor Currentzis und Music Aeterna:
Jean-Philippe Rameau: The Sound of Light. Sony 88843082572.
Wolfgang Amadeus Mozart: Le Nozze di Figaro. Sony 88883709262 (3 CD).
Wolfgang Amadeus Mozart: Così fan tutte. Sony 88765466162 (3 CD).