Wenn der Pianist Mikhail Pletnev auf der Bühne sitzt, ist er das Understatement selbst. Mysteriöserweise spielt er dabei hochromantisch Klavier. Das Beste ist seine Beethoveninterpretation.
Mikhail Pletnev gehört zu den Gestirnen der Pianistenszene. 1978 gewann er den ersten Preis beim Tschaikowsky-Wettbewerb, die bedeutendste Auszeichnung für junge Pianisten. Der Name Pletnev hat seinen festen Platz im Hinterkopf, auch wenn man ihn vielleicht noch nie hat spielen hören (zuletzt war er 2012 und 2013 zu Gast in Basel). Können ist hier nicht die Frage, sondern: Was für eine Persönlichkeit kommt da?
Für Pletnev muss man an diesem Montag leuchtendes Frühlingswetter vor der Tür zurücklassen. Der Hans Huber-Saal wirkt, als wären die Lampen nicht richtig aufgedreht worden, schummrig ists. Pletnev tritt mit ganz langsamen Schritten auf, als wäre er erst aufgestanden. Sieht nach einem Ritual aus.
Dank mit Wegwerfgeste
Am Instrument angekommen, spielt er als erstes zwei Beethovensonaten. Die Nr. 10 op. 14 Nr. 2 in G-Dur ist ein geschmeidiges Stück, viel Humor, flockig wie Neuschnee. Beethovens Kunst dabei: Man kriegt trotzdem feuchte Augen. Der dritte Satz endet nicht mit einem Schlussakkord, sondern mit einer hingeworfenen Figur in der linken Hand. Pletnev hält dieselbe in der Luft und zuckt dann mit den Schultern. «Weiss auch nicht», sagt seine Geste, «mehr ist da nicht.» Sitzenbleibend nimmer er den Applaus entgegen, nickt einmal Dank und macht dann eine Wegwerfgeste: «Ist gut jetzt». In den verebbenden Applaus hinein beginnt er mit der nächsten Sonate, die den Beinamen «Der Sturm» trägt. Hardcore-Understatement.
Nachdem auch der Sturm beendet ist (d-moll Nr. 17 op. 31 Nr. 2), erhebt sich Pletnev dann doch. Die Bewegung der ersten Verbeugung benutzt er dafür, um sogleich den Saal zu verlassen. Als er auf die Bühne zurückkehrt, bleibt er auf halber Strecke stehen und kuckt sich um. Pletnev schaut sich das an, wie die Leute da so klatschen. Dabei sieht er aus wie der Betreiber eines Elektrowarengeschäfts, das noch einen Familiennamen trägt. Wenn er ein Tier wäre: ein Dachs. Nicht grummelnd, sondern mit unaufgeregter Anteilnahme, ganz aus dem Rückgrat heraus.
Ein Fels mit aller Freiheit
Mit demselben Rückgrat sitzt Pletnev auf der Klavierbank. Rücken krumm, doch tief geerdet, das Zentrum absolut stabil. Sein Spiel büchst niemals aus. Doch dazu gibt es eine grosse Überraschung: Pletnev spielt hochromantisch. Viel Rubato, viel Pedal, der unrührbare Fels nimmt sich alle Freiheit. Dass Begleitfiguren zu einer Wolke verschwimmen, nimmt er in Kauf, um darüber ein Thema ganz zum Singen zu bringen.
Im Programmheft steht über Pletnev (übrigens toll gemacht von Klaus Schweizer: Informationen, mit denen sich hantieren lässt, erfrischend), Pletnev sei für dies und das bekannt, «und auch – falls erforderlich – für seinen kompromisslos harten Zugriff (u.a. bei Prokofjew)». Das ist sehr geschickt formuliert, denn der harte Zugriff bleibt aus. Auch im «Sturm», einem Stück des 31-jährigen Beethoven, das bereits alle Fenster zum Spätwerk öffnet. Pletnev bleibt in seiner Rückgratposition und agiert von hier aus als lyrischer Feinzeichner. Das ist sehr eigen und macht seltsam süchtig.
Schumann und Skrjabin: Pletnev kommt nach Hause
Ausgerechnet während dem «Sturm» fällt dem Journalisten ein Vers von Heinrich Heine ein:
Am leuchtenden Sommermorgen
Geh ich im Garten herum.
Es flüstern und sprechen die Blumen
Ich aber, ich wandle stumm.
So unstürmisch spielt Pletnev. Doch was war noch gleich mit diesem Vers? Robert Schumann hat ihn in seiner «Dichterliebe» vertont. Es kommt, wie es kommen muss, und vom selben Schumann steht im Anschluss die Humoreske in B-Dur op. 20 auf dem Programm. Und weiter noch: 24 Préludes op. 11 von Alexander Skrjabin – letztere sind Stücke zum Steinerweichen am Vorabend der Moderne (entstanden 1888-96). Pletnev freilich kommt sukzessive nach Hause. Schumann und Skrjabin, das ist Muttermilch.
Trotz Höchstromantik sind beide Stücke sehr anspruchsvoll, da lang von Dauer und im Aufbau nicht leicht nachvollziehbar. Pletnev, der lyrische Zauberer, bietet hier fast zu wenig Kante. Vielleicht ist er sogar zu heimisch in diesen Werken. Man kriegt beim Hören den Fuss nicht in die Tür. Im Rückblick zeigt sich: Der feinsinnige Kontrast, den Pletnev im Beethoven setzte, war das Spannendste an diesem Abend.