Alltägliches löst meist die vielfältigsten Erinnerungen aus. Ilya Kabakovs «Denkmal für einen verlorenen Handschuh» steht exemplarisch für diesen Gedanken.
Unter einem Baum am St. Alban-Rheinweg liegt ein roter Handschuh, staubig und halb unter Steinchen verborgen. Sicher gab es schon Menschen, die aus Versehen darauf traten. Wohl gab es auch schon welche, die sich bückten und ihn aufzuheben versuchten. Und sicher gab es schon einige, die nur wegen der neun metallenen Tafeln, die in einem Halbkreis darum herumstehen, merkten, dass dieser Handschuh nicht einfach ein verlorenes Kleidungsstück ist.
Seit 1998 liegt der Handschuh schon da, doch war es nicht immer derselbe. Am Anfang, da war er aus Kunststoff, der sich aber als brüchig erwies. Drei Jahre später ersetzte man ihn durch ein Äquivalent aus rot bemalter Bronze. Doch die Farbe wurde abgerieben, die Kanten glänzten plötzlich in der Sonne, der Eindruck eines echten Kleidungsstücks ging verloren.
Dabei ist doch dieser Eindruck so wichtig, der stoffliche Charakter, denn nur dann ist die Täuschung perfekt. Also ersetzte man den Handschuh 2014 erneut, durch ein Exemplar aus einem anderen Kunststoff diesmal.
Er fällt kaum auf, wie er da liegt. (Bild: Karen N. Gerig / ©Pro Litteris)
Autor dieses Kunstwerkes aus der Sammlung der Emanuel Hoffmann-Stiftung ist Ilya Kabakov, in dessen Werken Alltag und Erinnerungen einen ganz besonderen Stellenwert erhalten. So ist auch dieser Handschuh ein alltägliches Objekt – es wurde nicht verkleinert oder vergrössert oder in sonstwelcher Form verzerrt. Er liegt einfach da, auf dem Boden, als sei er jemandem aus der Tasche gefallen. Ein «Denkmal für einen verlorenen Handschuh» ist es, so lautet auch der Titel.
Vor einem Denkmal, so die Idee, soll man innehalten. Sich Zeit nehmen, um sich Gedanken zu machen. Kabakovs Handschuh lädt dazu ein. Und er liefert gleich ein paar mögliche Gedankengänge mit, die in vier Sprachen auf den Tafeln rundherum nachzulesen sind. Wie auf Notenständern liegen die anonym verfassten Geschichten vor uns, zum Lesen bereit, in Deutsch, Französisch, Englisch und Russisch.
Viersprachige Gedanken. (Bild: Karen N. Gerig / ©Pro Litteris)
Da wird über den Wunsch sinniert, diesen Handschuh mit der Schuhspitze weg zu befördern. Über die Frage, was Abfall sei. Es wird erinnert – an Zeiten, als noch spaziert wurde, und an ganz konkrete private Erlebnisse, in denen ein roter Handschuh wie dieser eine Rolle spielte. Ein Kriminalist wird durch das Fundstück auf die richtige Spur geführt, ein anderer macht sich Gedanken über die Harmonie von Farben – das Rot des Handschuhs und das Grün der Kastanienbäume. Selbst die potenzielle Einsamkeit des Handschuhs wird thematisiert. Und natürlich muss auch einer zu Wort kommen, der sich über die Schlampigkeit der Parkverwaltung beschwert.
Unzählig und vielfältig sind die Assoziationen, die dieses Kunstwerk weckt, so unscheinbar es da im Kies liegen mag. Egal, welcher Art die Gedanken sind, die einem durch den Kopf schiessen, wie poetisch, wie philosophisch, wie profan auch, sie alle tragen dazu bei, aus diesem roten Stück Kunststoff ein Kunstwerk zu machen.
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Während der Ausstellung «Future Present» im Schaulager, welche die Sammlung der Emanuel Hoffmann-Stiftung präsentiert, bietet das Schaulager-Team Führungen zu den Kunstwerken im Aussenraum an. Die Termine für Ilya Kabakovs «Handschuh» sind der 26. Juli und der 6. September, jeweils um 18.30 Uhr.