Urs Widmer blickt in einer Autobiografie auf die ersten 30 Jahre seines Lebens zurück – ehrlich, ergreifend und mit gewohntem Sprachwitz.
Der erste Satz eines Buches, so heisst es, sei der wichtigste. Er entscheide darüber, ob man sich das Werk weiter zu Gemüte führt oder gleich dem Altpapier übergibt. Urs Widmer hat uns sofort an der Angel: «Kein Schriftsteller, der bei Trost ist, schreibt eine Autobiografie.» Eine solche markiere unweigerlich das Ende, sie stehe am Schluss des Lebens, am Schluss des Wirkens. «Alles Material verbraucht. Kein Erinnerungsrätsel mehr.»
Urs Widmers Autobiografie «Reise an den Rand des Universums» erscheint am 28. August.
Urs Widmer eröffnet am 29. August um 19 Uhr mit einer Lesung die Saison des Literaturhauses Basel.
Urs Widmer: «Reise an den Rand des Universums». 352 Seiten. Diogenes Verlag. ISBN 978-3-257-06868-9
Nach diesem Einstieg lesen wir begierig weiter – nicht nur, um zu erfahren, ob der Autor Gründe hat, an seinem Verstand zu zweifeln, sondern, um zu sehen, ob er tatsächlich alle Geschichten erzählt hat.
Spätzünder mit Seidenfoulard
Das Buch beginnt dort, wo der Mensch beginnt. Nein, nicht bei der Geburt, sondern mit den lapidaren Worten: «So wurde ich gezeugt.» Im Lötschental nämlich, weit weg von der Welt, an einem schönen, einsamen Nachmittag wohl. Was folgt, ist jedoch nicht die Beschreibung eines sexuellen Aktes, sondern die Geschichte eines verliebten Paares in den Ferien.
Erinnern habe immer auch mit Erfinden zu tun, schreibt Widmer in der Einleitung. «Das Tatsächliche erinnern: Auch daraus kann nur ein Roman werden.» Und schon bei diesem Zeugungsmoment, der natürlich mit realer Erinnerung noch nichts zu tun haben kann, erinnern wir uns an ein anderes Werk Widmers, das für hitzige Diskussionen sorgte: «Der Geliebte der Mutter» warf vor zehn Jahren die Frage auf (und liess sie unbeantwortet), ob Urs Widmer aus einer Liebschaft seiner Mutter mit dem Dirigenten Paul Sacher hervorgegangen war.
Ist dies heute nun die Klarstellung, dass ein Roman auch mit biografischem Hauch Fiktion bleibt? Und wenn ja, richtet sie sich ans Publikum, oder rückt sich der Autor hier die eigene Erinnerung zurecht?
Ohne Kapriolen
Für einmal habe er keinerlei Kapriolen seiner Fantasie zugelassen, erzählte Widmer jüngst der «Sonntagszeitung». Mit der Auslassung des Kapitels Paul Sacher macht Widmer deshalb auch unmissverständlich klar: Diese Diskussion ist für ihn gegessen. Er widmet sich, wie es sich fürs Genre gehört, seinem eigenen Leben. Und dieses schildert er in ergreifender Art.
Nach der Lektüre wissen wir, dass Urs Widmer als Kind Bata-Sandalen trug. Dass er in Triebfragen ein Spätzünder war, der seinen ersten Orgasmus Audrey Hepburn verdankt. Dass er einst kurz überlegte, ob er seinen ehemaligen Lehrer überfahren sollte. Dass er die Depression der Mutter teilweise hinnahm, sie aber auch zeitweise zu verdrängen wusste. Dass er selber als Kind unter zahlreichen Ticks litt, sich zum Beispiel die Haare verknotete und sie büschelweise ausriss. Und dass er sich lange Jahre weigerte, lange Hosen zu tragen, weil er nicht erwachsen werden wollte. Nur, um dann als Teenager gleich zu einem Tenue aus langem Regenmantel und Seidenfoulard zu wechseln.
Als Basler fühlen wir uns dem Autor manchmal besonders nahe. Die Orte seiner Kindheit und Jugend sind uns wohlbekannt. Auch wir haben schon Wein getrunken in Lokalen wie der Hasenburg oder der Harmonie, wo Widmer so gern verkehrte. Und wir kennen die Strassen auf dem Bruderholz, durch die seine Mutter den Jungen am ersten Kindergartentag schleifte.
Lachen über sich selbst
Widmer erzählt aus seinem Leben, ehrlich und unverblümt. Er gesteht Fehler ein und nimmt sich nicht allzu wichtig. Und er tut das in einer entwaffnenden Direktheit und mit gewohntem Sprachwitz. Er ist sich auch nicht zu schade, mit dem Leser über sich selbst zu lachen – schon seine Geburt bietet er als Anlass dafür an: «Ich hatte einen Kopf wie eine Birne, weil ich mit einer Zange ins Freie befördert werden musste. (…) Ich war aber gesund, ausser dem Hirn war nichts zerdrückt worden.»
Manches Erlebnis malt Widmer in den buntesten Farben, so dass wir nicht anders können, als uns an seiner Seite zu wähnen. Anderes erwähnt er am Rande, einer Aufzählung gleich. Nie aber verkommt das Buch zu einer nüchternen Betrachtung, zu gewaltig ist die sprachliche Begabung dieses grossen Erzählers.
Ende und Aufbruch
Eine gewisse Unbekümmertheit zieht sich durch das ganze Buch, den gesellschaftlichen Umwälzungen oder dem frühen Erlebnis des Krieges zum Trotz. Widmer wusste zu geniessen, zu leben. Nur einmal spricht er von Reue, gar von Schuld. Es ist das berührendste Kapitel des Buches, dem Tod des Vaters gewidmet.
«Den Tod meines Vaters habe ich so oft erzählt, dass ich ihn auswendig hersagen kann», leitet Widmer das Ereignis, das er in – wie jetzt klar ist – veränderter Form schon im Roman «Das Buch des Vaters» verarbeitete. Wie bedeutend es für ihn war, drückt er auch durch ein formales Mittel aus: Er schreibt in kursiven Lettern, wo die Erinnerung exakt ist. Hier bleibt die Fiktion komplett aussen vor – das Gehirn fügt nichts hinzu, um Lücken zu füllen.
Das Kapitel kommt spät in diesem Buch, das nur die ersten 30 Lebensjahre des Schriftstellers von 1938 bis 1968 erzählt. Und es markiert eine Art vorläufiges Ende, wie Widmer es in den ersten Worten angedroht hat. Gleich darauf aber folgt ein neuer Aufbruch, nach Deutschland diesmal, frisch verheiratet, wo Widmer auf einem Estrich seine allererste Erzählung verfasst. Das Ende als Beginn. Also doch. Etwas anderes hätten wir ihm auch nicht abgenommen.
Artikelgeschichte
Erschienen in der Wochenausgabe der TagesWoche vom 23.08.13