Ein nie verwelkendes Epos der Melancholie: «Disintegration» von The Cure

Majestätischer Sound, der durch die tiefsten Furchen des Herzens pflügt: «Disintegration» aus dem Jahr 1989 ist das zum Verzweifeln schöne Meisterwerk von The Cure. Möglichst viel davon an ihrem anstehenden Konzert in der St. Jakobshalle, bitte.

Musician Robert Smith of The Cure performs in concert circa 1989 in New York City. (Photo by L. Busacca/WireImage)

(Bild: Getty Images)

Majestätischer Sound, der durch die tiefsten Furchen des Herzens pflügt: «Disintegration» aus dem Jahr 1989 ist das zum Verzweifeln schöne Meisterwerk von The Cure. Möglichst viel davon an ihrem anstehenden Konzert in der St. Jakobshalle, bitte.

So beginnen Epen, so schallen Zeitenwenden: Wie Weihrauch schweben die Fanfaren aus dem Synthesizer empor, umwehen die in Hall ersäuften Gitarren und Drumschläge. Zweieinhalb Minuten lang, auf der Klimax schneit die Stimme von Robert Smith herein und singt von Dunkelheit, Regen und Kälte, während ein Echo seine Worte weiterträgt. Es klingt wie der nasse, trübe, zum Verzweifeln schöne Herbst. 

Robert Smith, dieser Sänger mit dem Make-up einer Leiche und den verzupften schwarzen Strähnen auf dem Haupt, war schon immer das Gesicht von The Cure, seit diese Band aus der Erbmasse des Punk und den ersten Wellenschlägen von New Wave Ende der 1970er-Jahre erstmals in Erscheinung trat. Dennoch ist «Disintegration», erschienen 1989 als ihr achtes Album, eine Platte, wie sie die Südengländer zuvor nie hinbekommen hatten.

Nachtschattenklang aus der Klausur

Zwei Jahre vorher hatten The Cure mit «Kiss Me, Kiss Me, Kiss Me» ihren bisher grössten Erfolg eingefahren – Spitzenplatzierungen nicht nur in der Heimat England, sondern auch auf dem Kontinent, dazu der erstmalige Chartseinstieg in den USA. Aber Robert Smith war unzufrieden, er stand vor seinem 30. Geburtstag und in der Band machten sich erste Richtungsstreits bemerkbar, denn manche Mitglieder wollten hin zu einem weicheren, stärker dem Pop verpflichteten Sound, um den Erfolg zu zementieren.

Smith war anderer Ansicht. Er zog sich zurück, um zu schreiben – und kam mit einer Albumskizze zurück, die vom Plattenlabel wenig erfreut aufgenommen wurde. Auch Teile der Band waren unzufrieden, was im Rauschmiss von Gründungsmitglied Lol Tolhurst während der Aufnahmen mündete.

Es war aber auch eine in dunkle Melancholie gehüllte, von Moll-Akkorden durchsetzte Reihe an Songs, die Smith aus der Klausur zurückbrachte. Und damit an den frühen Nachtschattenklang der Band anknüpfte, der mit dem Album «Pornography» 1982 einen ersten Höhepunkt erreicht hatte, bevor sich der Pop einschlich. 

«Disintegration» führt diese beiden Stränge zusammen – die von Selbstzweifel geplagten Texte und die griffigen Melodien, die Smith, zuvor gerne ein nuschelnder Kläffer am Mikrofon, so klar und beschwörend singt, als müssten sie für alle Zeiten strahlen. Um Liebe geht es meist in seinen von majestätischem Sound emporgehobenen Liedern, allerdings nicht um den Frohsinn, die sie ihm, dem damals frisch Vermählten, doch stiften sollte, sondern um Verlustängste und die Sehnsucht nach Nestwärme. In «Pictures Of You» wühlt er sich durch einen Haufen alter Fotos und einen noch grösseren der noch immer glühenden Gefühle, während er den verpassten Gelegenheiten nachtrauert und im Schmerz die Bilder zerreisst.

Im kürzesten – und erfolgreichsten – Stück «Lovesong» rafft er sich immerhin zum Versprechen «I will always love you» auf, das jedoch eher nach einem flehenden Return of Investment klingt: «Whenever I’m alone with you, you make me feel like whole again.» Nach einem Zustand des Glücks müsste sie klingen, diese im Präsens gehaltene Ode, aber Glück ist nicht Smiths stärkste Seite.

Stark dafür gerät das hypnotische «Lullaby», das mit seinem markanten Bass stilistisch am stärksten vom geschlossenen Klang der Platte abweicht und Smiths Wahnfantasien aus seiner früheren Drogensucht verarbeitet, aber am Ende schliesst sich das Album wieder. «Untitled» heisst der Abschluss, wofür es nicht einmal einen Titel mehr braucht, denn man hat begriffen, worum es dem geschundenen Poeten geht. «Never quite said what I wanted to say to you / And now the time has gone», während die Gitarrentöne wie dürres Laub zu Boden fallen. Dem Titel zum Trotz hält sich das Album in wunderbarer Harmonie zusammen. Alles stimmt in diesem nie verwelkenden Epos über die tiefsten Furchen des Herzens.

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The Cure live, 4. November, St. Jakobshalle Basel (ausverkauft).




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