Ein Schriftsteller? Das bin ich nur am Schreibtisch

Am 11. November wurde Alain Claude Sulzer (60) der diesjährige Kulturpreis der Stadt Basel verliehen. Die Ehrung veranlasste den Schriftsteller, seinen Werdegang und seine Arbeit zu reflektieren – und einige Missverständnisse aus der Welt zu räumen.

Preisträger Alain Claude Sulzer: «Es stimmt, dass ich keiner geregelten Tätigkeit nachgehe. Aber es stimmt nicht, dass ich die ganze Zeit Urlaub mache.» (Bild: Julia Baier)

Am 11. November wurde Alain Claude Sulzer (60) der diesjährige Kulturpreis der Stadt Basel verliehen. Die Ehrung veranlasste den Schriftsteller, seinen Werdegang und seine Arbeit zu reflektieren – und einige Missverständnisse aus der Welt zu räumen.

Als ich ein kleiner Junge war, träumte ich nicht von einer Zukunft als Kran- oder Lokomotivführer, Schlagersänger oder Kapitän. Ich wollte Schriftsteller werden. Ich las und schrieb und las. Keine andere Tätigkeit schien mir sinnvoller. Ich verbrachte viele Stunden in der damals noch ganz neuen, sonnendurchfluteten und nach lackiertem Holz ­riechenden Gemeindebibliothek in Riehen und verschlang, was mir in die Hände geriet. Ich hatte nur eine vage Vorstellung davon, was ein Schriftsteller sei, aber die bestimmte Vorstellung, dass ich genau das sein wollte. Ruhm- und Gefallsucht oder einfach ein übertriebenes Mitteilungsbedürfnis? Ich und die Welt?

Ich konnte mir nichts Erstrebenswerteres vorstellen, als meinen Namen auf einem Schutzumschlag zu ­lesen, und ich konnte mir auch nicht vorstellen, dass es anderen anders erging. Ziemlich früh begann ich, meine Unterschrift zu üben. Für alle Fälle. Nicht zur Freude meiner Lehrer. Vor diesem Wunsch waren natürlich die Bücher. Erst sie und das, wovon sie handelten, danach erst ihre Verfasser. Diese nahmen nur ganz allmählich Form an; sie lebten auf einem anderen Planeten oder waren längst tot. So einer wollte ich sein?

Ausgezeichnet
Am 11. November wurde Alain Claude Sulzer (60) der diesjährige Kulturpreis der Stadt Basel verliehen. Unter den Gästen im Grossratssaal ­fanden sich wenige Berufs­kollegen, vielleicht, weil ihm manche den Erfolg nicht gönnen, womöglich auch, weil die Literaturszene klein ist – vielleicht auch, weil die andern zu Hause blieben, um zu schreiben. Vielleicht aber auch, weil sich Sulzer nicht als «Basler Schriftsteller» versteht. Er wuchs in Riehen auf, lebt heute aber auch im Elsass und in Berlin, wo er seinen letzten Roman «Aus den Fugen» ansiedelte.

Regierungspräsident Guy ­Morin dankte Sulzer für seinen herausragenden Beitrag, den er international für die Literatur geleistet habe. Und erinnerte an Aussagen, die Sulzer in einem Interview mit der ­TagesWoche gemacht hatte: «Basel ist weder zu gross noch zu klein. Wenn ich eine grös­sere Umgebung brauche, kann ich nach Berlin reisen, und wenn mir nach etwas wirklich Kleinem ist, fahre ich raus ins Elsass.»«Damit kratzen Sie an unserem Selbstbewusstsein», sagte Guy Morin, «das tut uns gut. Basel als Reibungsfläche, an der sich Ihre Kreativität entzündet, so würden wir uns ­gerne sehen.» Marc Krebs

Erst die Bilder- und Märchenbücher, die damals, urheberrechtlich ­bedenklich, oft ohne Autorennamen auskamen (von den ungenannten Übersetzern und gnadenlosen Bearbeitern ganz zu schweigen), dann die Kinder-, dann die Jugendbücher, allen Favoriten voran: das «Rösslein Hü» und «Pinocchio». Noch heute lässt der Gedanke daran mein Herz ruhiger schlagen, obwohl ich beide – wohlweislich – schon lange nicht mehr in die Hand genommen habe. Auch «Peterchens Mondfahrt» nicht. Ich fürchte, ich wäre bei der Wiederbegegnung enttäuscht. Lassen wir sie also dort, wo sie am besten aufgehoben sind: im Schutz der verklärenden Erinnerung. Ich wollte Schriftsteller sein, aber wie wird man das? Man schreibt. Ich schrieb. Ich schrieb lange nicht nur ohne Erfolg, ich wurde – von ein paar Hörspielen abgesehen – auch nicht veröffentlicht, jedenfalls nicht in Buchform.

Ich hatte nichts zu sagen, und das entging den Verlagen, denen ich meine Arbeiten schickte, zu meinem Glück – wie ich heute sagen kann – natürlich nicht. Ich schnappte noch nach Worten. Ich atmete sie nicht. Ich schrieb, ich suchte, ich schrieb, bevor ich etwas zu erzählen hatte, aber ich blieb dabei, weil ich Schriftsteller sein wollte, noch bevor ich es war. Ich wusste, was ich wollte, ohne zu wissen, wie man es erreicht. Ein unangenehmer, zwitterhafter Zustand. Andere gehen einen direkteren Weg. Sie beginnen erst dann zu schreiben, wenn sie wirklich etwas zu erzählen haben.

Als ich dreissig war, eigentlich spät also, erschien mein erstes Buch. Ich hielt es in der Hand und stellte mir vor, irgendwo in Frankfurt würde Marcel Reich-Ranicki sitzen und wäre über das, was er da las, genauso begeistert, wie ich es beim Wieder­lesen selbst gerade war. War er aber nicht. Er nicht und andere auch nicht. Ich will nicht sagen, dass es sang- und klanglos unterging, aber mehr als ein Achtungserfolg, wie man mittlere Niederlagen umzutaufen pflegt, war es nicht. Wäre ich mir dessen bewusst gewesen, hätte ich trotzdem weitergemacht. Es war immerhin ein Anfang.

Lange Zeit war ich in den Augen der Bewohner des Dorfs, in dem ich hin und wieder lebe, derjenige, der keiner geregelten Tätigkeit nachgeht (was stimmt), beziehungsweise der­jenige, der immer Urlaub macht (was nicht stimmt). Früh allerdings begannen andere, mich darum zu beneiden. Es waren jene, die mich nicht fragten, ob man davon denn leben könne (die gibt es auch, es sind nicht wenige), sondern die, die sich unter der Arbeit eines Schriftstellers eine Art geistige Wellnesstherapie vorstellen, die wenig Kraft kostet und unendlichen Spass bereitet. Im Gegensatz zu einem Filialleiter ist man ja für nichts und niemanden verantwortlich, weder für verderbliche Lebensmittel noch für zänkische Mitarbeiter. Was könnte schöner sein.

Was ist ein Schriftsteller?

Nachdem ich es endlich geworden war und immer öfter mit den unterschiedlichsten Vorstellungen anderer von diesem Beruf konfrontiert wurde, begann ich mir die Frage zu stellen: Was ist ein Schriftsteller, wenn er kein Wunschtraum mehr ist, sondern alltägliche Realität, für die sich nur wenige interessieren?

Ich wusste, was ich wollte, ohne zu wissen, wie man es erreicht.

Dass ich nicht der Einzige bin, der sich fragt, erfuhr ich, als eines Tages der Monteur mein Arbeitszimmer ­betrat, der gerufen worden war, um einen defekten Heizkörper zu reparieren. Nachdem er eine Weile still vor sich hingewerkelt hatte, fragte er mich unvermittelt, was ich denn eigentlich arbeite. Etwas perplex, antwortete ich, ich sei Schriftsteller. Er hielt in seiner Tätigkeit inne und überlegte. Nach einer Weile fragte er: «Was heisst das?» Er konnte sich nichts darunter vorstellen. Ich erklärte ihm: «Ich schreibe Bücher.» Er überlegte von Neuem und erwiderte ein paar Sekunden später: «Aha. Und wie viele im Monat?»

Dieses Gespräch zwischen einem, der Bücher schreibt und einem, der mit Sicherheit noch keines gelesen hat und vermutlich auch keines besitzt, geht mir seither nicht aus dem Sinn, und nicht nur deshalb, weil es eine Anekdote mit einer hübschen Pointe ist. Vielmehr deshalb, weil es etwas darüber aussagt, auf wie engem Raum wir in ganz verschiedenen Welten leben können, ohne uns zu berühren. Keine Frage, dass wir damit leben müssen und damit leben können.

Übrigens auch damit, dass unsere Existenz unsicher, auf die Inspiration kein Verlass und alles in allem die Zeit für alles, was man tun möchte, zu knapp bemessen ist.

Ich war dem Monteur für diese ehrlichen Fragen so dankbar wie für die anschauliche Geschichte, die er mir damit lieferte. Wie exotisch – denke ich seither – müssen wir jenen vorkommen, die sich nicht vorstellen können, wie sich einer freiwillig vor ein unbeschriebenes Blatt Papier oder ein leeres Word-Dokument setzen kann, um sich von dem gähnenden Nichts, das dort herrscht, inspirieren zu lassen. (Was natürlich nicht stimmt: Denn der Unbekannte lässt sich nicht von der Leere inspirieren, sondern von der ungeahnten Fülle, die sich in seinem Inneren aufgestaut hat und ins Leere drängt, um sie zu füllen.)

Wie unnütz muss ihnen das Produkt vorkommen, das am Ende in den Buchhandlungen liegt und darauf wartet, von anderen gekauft zu werden als von jenen, die niemals eine Buchhandlung betreten und bei Amazon alles Mögliche, bloss keine Bücher kaufen? All das sollte man bei der Arbeit unbedingt aus seinem Bewusstsein verbannen, denn daran zu denken, nützt keinem etwas.

Der Monteur, ein weisses Blatt

Bezüglich seines Wissens über die Arbeit des Autors war der Monteur, der wohl nie erfahren wird, dass er eines Tages Gegenstand einer Dankesrede für einen Kulturpreis sein würde, so unbeschrieben wie ein weisses Blatt Papier. Ich vermute sogar, dass ich besser über Heizungen und Heizungssysteme Bescheid weiss als er über Literatur. Erfreulicherweise tat er nichts, um sein Unwissen zu kaschieren. In Zeiten, in denen jeder lautstark über alles Bescheid zu wissen vorgibt, ist diese Art von Ehrlichkeit selten und deshalb umso lobenswerter.

Weiss ich denn nun nach all den Jahren, in denen ich es bin, was ein Schriftsteller ist? Ein Schriftsteller ist erst einmal nicht ich. Schriftsteller sind immer die anderen, die, denen offenbar alles leicht von der Hand geht, leichter als mir; es sind die, die im Gegensatz zu mir genau wissen, wie «es» funktioniert; ich könnte jetzt eine unendlich lange Liste von Autoren nennen, die ich kenne, die ich schätze, die ich bewundere, die ich für überschätzt halte, für unterschätzt, die ich lese, die ich gelesen habe, gern lesen möchte, nicht lese, nie lesen werde. Sie sind der Nährboden des Bewusstseins meiner selbst als Autor. Aber sie helfen mir nicht. Warum und wie sollten sie auch? Manchmal weisen Sie mich auf meine Fähigkeiten, meist aber auf meine Grenzen hin.

Ein Schriftsteller ist zunächst einmal nicht ich. Schriftsteller sind immer die anderen.

Dann kommt aus heiterem Himmel so ein Preis, der einen für ein paar Augenblicke in den Mittelpunkt des Interesses rückt. Das tut gut, auch wenn der Mittelpunkt bei Licht betrachtet ganz klein und das Interesse auf wenige Interessenten beschränkt bleibt. Da weiss man plötzlich oder glaubt zu wissen – für ein paar Augenblicke –, was man ist, wenn man von sich behauptet, man sei Schriftsteller. Wenn nicht, erklärt es der Laudator, dem ich an dieser Stelle endlich herzlich danken möchte.

Man tut, was man kann: Man versucht, dem Anlass entsprechend die richtigen Worte zu finden (und ist unzufrieden, weil man sie ja doch wieder nicht findet; aber lassen wir das). Womit ich bei der Quelle des Glücks und Unglücks des Schriftstellers bin, der ich in diesem Augenblick, da ich vor Ihnen stehe, jetzt nicht bin (jetzt bin ich Redner). Schriftsteller ist man nur – oder besser, bin ich nur –, wenn ich am Schreibtisch sitze, im Augenblick des Schreibens, im Augenblick, in dem ich das treffende Wort, die richtige Wendung, die passende Formulierung gesucht und gefunden habe.

Schreiben besteht aus vielen mikroskopisch kleinen Schritten, und diese geht man nur, wenn man auf seinen Schreibtisch blickt, wenn man den Worten folgt, die entstehen, und andere wieder auslöscht, damit sie verschwinden, weil sie, die manchmal richtig sind, im Handumdrehen, mit einem neuen Gedanken, die falschen oder irrtümlichen sein können. Was eben noch war, ist nicht mehr. Dass wir es in der Hand haben, eine Art von Wirklichkeit nach Belieben zu manipulieren, ist ebenso bedenklich wie erschreckend, beglückend wie ­bereichernd. Was will man mehr?

Artikelgeschichte

Erschienen in der Wochenausgabe der TagesWoche vom 15.11.13

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