Das 46. «Montreux Jazz Festival» bestach mit Konzerten auf zumeist herausragendem Niveau – am letzten Wochenende etwa von Chic-Frontmann Nile Rodgers, Disco-Amazone Grace Jones und Nachwuchshoffnung Janelle Monae. Das Festival kämpft aber gleichzeitig gegen immer lauter werdende Nebengeräusche.
Claude Nobs wirkt müde. Irgendwie verständlich. Schliesslich ist es kurz vor vier Uhr morgens am vorletzten Tag seines zweiwöchigen Jazzfestivals, und ihm, «dem Freund der Stars» («Die Zeit»), obliegt die undankbare Aufgabe, seine illustre Superstar-Runde von weiteren Zugaben abzuhalten. «Die Behörden haben uns tatsächlich eine Sperrstunde auferlegt», meint Chic-Mastermind Nile Rodgers, der zuvor über Stunden das Publikum mit Energie, Witz und Spielfreude bei bester Laune gehalten hatte, mit ungläubigem Grinsen. «Was meinst Du Claude? Wollen wir trotzdem weiterspielen?» Doch der Angesprochene schüttelt den Kopf: «Es ist Zeit, nachhause zu gehen – draussen gibt es Kaffee und Gipfeli für alle. Auf Wiedersehen!»
Kein Anschluss, kein Alkohol
Was Nobs nicht sagt: Zwar schenken die Serviceangestellten der einzigen Bar vor dem Auditorium Stravinski tatsächlich Kaffee aus, doch keineswegs gratis, wie viele der anstehenden Gäste nach langem Warten enttäuscht feststellen müssen. Und: Zwar hat die Stadt tatsächlich beschlossen, dass die Konzerte spätestens um 4 Uhr beendet sein müssen – für einen Anschlusstransfer ist aber mitnichten gesorgt. Taxis sind ein rares Gut, und wer – wie die meisten – nicht in unmittelbarer Umgebung des Festivals übernachten kann, muss die Zeit bis zu den ersten Zügen und Bussen, die mehrheitlich erst ab Viertel nach 5 oder gar 6 Uhr fahren, irgendwo draussen überbrücken. Das «Jazz Café» wäre ebenfalls noch offen, ist aber komplett von der betrunkenen Dorfjugend vereinnahmt. Das Barpersonal hat hier einen schweren Stand, seinen ungehaltenen Gästen zu erklären, wieso ab 4 Uhr kein Alkohol mehr ausgeschenkt werden darf, der benachbarte Festival-Club «Studio» lässt wohlweislich gar keine Neuankömmlinge mehr rein. Und so ziehen an die tausend Besucher lautstark durchs Dorf, Richtung Bahnhof, und bringen wohl auch den letzten Einwohner um seinen Schlaf.
Man könnte diese Unannehmlichkeiten mit Hinweis auf die versammelte Musikerprominenz und das Flair des weltberühmten Festivals für vernachlässigbar erklären – wäre es nicht so sinnbildlich für die diesjährige «Montreux Jazz»-Ausgabe, die mit tollen Konzerten bestach, auf vielen Nebenschauplätzen aber gemischte Gefühle hervorrief. Montreux, soviel ist seit Jahren klar, das muss man sich leisten können – und wollen. Die exklusive Klientel gehört seit jeher genauso zum Bild wie die idyllische Kulisse am Genfersee. Als Ausgleich zu den teuren Konzerten internationaler Stars bietet das Festival ein hochkarätiges Gratisprogramm mit Dutzenden von Newcomern und Underground-Acts, wofür Musikliebhaber von nah und fern hierherpilgern – ein Fakt, der bisher dem «Montreux Jazz»-Image alles andere als abträglich war.
Feiern ohne Rücksicht auf Verluste
Doch genau dieser Spagat zwischen «Luxus für wenige und Party für alle» schien in diesem Jahrgang an seine Grenzen zu stossen. Viele der als Highlights beworbenen Konzerte waren trotz grosser Namen bei weitem nicht ausverkauft, manche fanden gar vor halbleeren Rängen statt. Umso überfüllter war das restliche Areal. Hier hat «Montreux Jazz» mittlerweile Dorffest-Charakter, es scheint, als käme auch der hinterletzte Lémanbewohner hierher, um am Ambiente des Festivals teilzuhaben. An und für sich eine gute Sache. Nur: Es mangelt schlicht an Platz für alle Besucher. Im Gedränge herrscht für Konzertgäste kein Durchkommen mehr, und trotz teils schwindelerregender Preise steht man bei fast jedem Stand über eine Viertelstunde an.
Unangenehm ist die Situation auch für nicht wenige Musiker: Denn während mainstreamorientierte Bands und Volksmusik beim heterogenen Publikum klar im Vorteil sind, gehen Acts, die auf komplexe Arrangements und Zwischentöne setzen, im Radau oft gnadenlos unter. So etwa beim samstäglichen «Spot on Denmark», wo pubertierende Schuljungen während des Konzerts des Newcomers «Asbjorn», der seine fragilen Synthie-Popentwürfe präsentierte, ihre Klassenkameraden mit Buh- und Zwischenrufen wie «Haut ab, ihr Schwulen» zu beeindrucken versuchen.
Erst weit nach Mitternacht macht sich hier richtige Feierstimmung breit, dann allerdings wiederum zu enttäuschend gleichförmigem Electro House. Im «Studio» gibts dagegen massig Rambazamba, aber ebenfalls zur kommerziellsten Variante des aktuellen Deep- und Tech-House-Sounds und bei ebenso prekären Platzverhältnissen. Einzige Ausnahme: Das letzte DJ-Duo «Finger tanzen», zwei wackere Lausanner Mannen mit Schnauz und Hut, die gar nicht erst vorgeben, ihren spassig-simplen Gipsy- und Polka-Techno ernst zu nehmen, und dafür beeindruckende La Ola-Choreographien auf Lager haben. Zwischen den einzelnen Festzelten wiederum verderben vielerorts Pöbeleien die Laune, stehen teils finstere Gestalten, die wohl aus den Städten Lausanne und Genf angereist sind, und aggressiv alles anbaggern, was an weiblichen Geschöpfen vorbei läuft.
Frustrierte Klientel Kulturbürger
Dass die Beliebtheit des malerischen Areals es den Besuchern zuweilen schwer macht, die musikalischen Darbietungen zu geniessen, ist nicht neu – und potenziert sich sicherlich jeweils an den Wochenenden. Dennoch fühlt sich, wer viel Geld für Ticket, Anreise und Übernachtung ausgegeben hat, nachvollziehbar um ein ungetrübtes Festivalvergnügen geprellt. Insbesondere die englischsprachigen Gäste beklagen sich diesen Sommer fast einhellig. «Es wird von Jahr zu Jahr schlimmer», sagt etwa die 38-jährige Emily aus Südengland, die regelmässig mit ihrem Gatten nach Montreux fliegt. «Alles wird teurer, das Ambiente gleichzeitig immer schlechter. Auch wenn ich echt tolle Konzerte gesehen habe, frage ich mich, ob ich nächstes Jahr nochmals kommen soll. Für Multimillionäre mit eigener Lounge und Chauffeur mag Montreux Spass machen, wenn man vor lauter Drängeleien die eigentlichen Konzerte verpasst, sieht das anders aus.»
Stein des Anstossens auch hier: Dass man bei Ausgang und Wiedereinlass des Auditoriums (etwa zum Rauchen) zu viel Zeit verliere, und zwanzig Minuten Wartezeit für einen Zwei-Deziliter-Longdrink im Plastikbecher einberechnen müsse, der mit 16 Franken komplett überteuert sei: «Eine Frechheit – und das nennt sich dann All Night Dance Party», schnaubt die Besucherin. Ein Snob, wer Böses dabei denkt? Mitnichten. Gerade die Hauptklientel von Montreux, die Kulturbürger der oberen Mittelschicht, kämpfen dieses Jahr als zahlende Gäste ohne Zusatzrechte mit den Nebenschauplätzen des Festivals, mit den sich zuspitzenden Gegensätzen aus VIP-Behandlung für wenige und der Übernutzung des Areals durch die vielen Besucher, die wegen des Gratisprogramms hier sind.
Handy-, Rauch-, Ess- und Trinkverbot
Tatsächlich ist es den Musikern der freitäglichen «Freak Out»-Party hoch anzurechnen, dass sich angesichts der ungünstigen, ja sterilen Bedingungen im Auditorium Stravinski, überhaupt Ausgelassenheit breit macht. Denn nicht nur herrscht ein rigides Handy-, Ess- und Rauchverbot, sondern trotz tropischer Temperaturen müssen auch jegliche Getränke draussen bleiben – nicht gerade im Geiste des hier beschworenen Sündenbabels «Studio 54». Zum Erfolg trägt hier einerseits die bereits erwähnte, bestgelaunte Legende Nile Rodgers bei, der als Host und Bandleader stets einen lockeren Spruch auf den Lippen hat, hier und da eine Anekdote einstreut, sich routiniert durch seinen gesamten Songkatalog spielt und Welthits wie «I’m Coming Out» oder «Le Freak» genauso mit Verve zum Besten gibt wie vergessene Perlen à la «Why».
Eine Performance, die punkto Energiegeladenheit die gleichzeitig in der Miles Davis Hall aufspielenden Rocker Nada Surf und The Ting Tings alt aussehen lässt, gepaart mit einer Selbstsicherheit, die auch nicht alle seiner an die zwei Dutzend Gäste mitbringen: La Roux-Sängerin Elly Jackson etwa vergisst vor lauter Aufregung angesichts des Aufmarsches an Superstar-Kollegen tatsächlich den Text zu ihrem grössten Hit «Bulletproof» – und ist angesichts dieses Faux-Pas sympathisch untröstlich. «Wie ihr seht, bin ich in Wahrheit alles andere als bulletproof!» Alison Moyet bekundet dagegen Mühe mit den hohen und tiefen Stimmlagen ihrer alten Yazoo-Hits, und Cerrone kämpfen frühabends mit Soundmix und dem ständig Kommen und Gehen im Saal. Die DJs Mark Ronson Dimitri from Paris und Felix da Housecat spielen wiederum spätabends trotz ihres Bekanntheitgrads jeweils nur eine knappe halbe Stunde – und noch viel unverständlicher: von einer mitten auf die Bühne montierten, blinkenden LED-Wand verdeckt.
Endlich: Die einzigartige Grace Jones – und ihre junge Konkurrenz
Dass viele hundert Gäste trotzdem bis halb vier Uhr früh in der Halle ausharren, liegt vor allem am versprochenen Gastauftritt von Grace Jones. Und die Hoffnung ist nicht vergebens. Nur gerade fünf Lieder braucht die Amazone, um mit ihrem einzigartigen Charisma alle zu verzaubern. Die Stimme: klar, kräftig und messerscharf, jedes ihrer fünf Kostüme inklusive exzentrischer Kopfbedeckung übertrifft das vorhergehende, und wie unglaublich topfit die 64-jährige noch immer ist, demonstriert sie im Stringbody bei «Slave To The Rhythm», wo sie den Hula-Hoop-Reifen derart gekonnt um die knackigen Hüften kreisen lässt, dass sogar Nile Rodgers vor Ehrfurcht in die Knie geht. Kunststück, verdankt der Songwriter den grössten Hit seiner Karriere doch der Tatsache, dass er einst beim angestrebten Treffen mit Grace vom Türsteher des «Studio 54» nicht eingelassen wurde, wie er dem Publikum erklärt: Aus dem anschliessenden, wütenden «Fuck Studio 54»-Diss wurde «Le Freak» – der Rest ist Geschichte.
Gegen die geballte Kraft der hier versammelten Disco-Ikonen haben die tags darauf aufspielen Acts naturgemäss einen schweren Stand. Obwohl auch Herbert Grönemeyer sich von seiner charmantesten Seite zeigt, und reizvoll französisch radebrecht, etwa wenn er mit «des avions dans l’estomac» seinen Kultsong «Flugzeuge im Bauch» ankündigt. Auf hohem Niveau präsentiert sich auch der abschliessende Abend dreier weiblicher Pop-Nachwuchshoffnungen in der benachbarten Miles-Davis-Hall. Die 22-jährige Neuseeländerin Kimbra, bekannt aus Gotyes letztjährigem, globalen Chartstürmer «Somebody That I Used To Know», überzeugt selbst mit eingängigen Songs samt avantgardistischem Einschlag.
«Lächerliche» Vorwürfe und blank liegende Nerven
Die von Nina Simone und Joni Mitchell inspirierte Emeli Sandé, Schottin mit Wurzeln im afrikanischen Sambia, beginnt etwas atemlos und nervös, steigert sich aber mit starken, schmerzerfüllten Balladen irgendwo zwischen Mary J. Blige, Massive Attack und Pink. Und am Ende liefert US-Hitmaschine Janelle Monae, in Hosenträgern und Steppschuhen, unterstützt von einer 14-köpfigen Big Band, eine spektakuläre Broadway-Revue ab, welche die Zuschauer zu Begeisterungsstürmen hinreisst. Dass die rasant inszenierte Jazzshow samt stetigem Zahnpastalächeln allzu einstudiert und perfekt wird, und etwas Spontaneität vertragen könnte: geschenkt. Es gibt nun mal nur eine Grace Jones, die einer bis ins Detail sitzenden Performance trotzdem eine unnachahmliche Nonchalance verleihen kann – wie diese am Vorabend eindrücklich demonstriert hat.
Es gibt allerdings auch nur einen Claude Nobs, der trotz der vielen, nicht ausverkauften Abenden am Schluss stolz eine Rechnung mit knapp schwarzen Zahlen präsentieren kann und – in punkto geselliger Stimmung zwischen Stars und Publikum – von «einem der sympathischsten Festivaljahrgänge» schwärmen darf. Dass das in den letzten Jahrzehnten stets blütenreine Image von Montreux erste Brüche und Abnützungserscheinung zeigt, konnte aber auch er nicht verhehlen. Als man ihn auf die umstrittene Rolle von Socar ansprach, einer aserbaidschanischen Erdölfirma, der gravierende Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen werden, und die mit geschätzten vier Millionen neu einer von Montreux‘ Hauptsponsoren ist, zeigte der sonst stets so höfliche Festivalleiter Nerven – und bezeichnete den Imageschaden als «lächerlich».
Nobs‘ Fazit hinterlässt viele offene Fragen
Diese Haltung wirft Fragen auf – etwa, ob die Expansionsstrategie der Festivalleitung, die am Dienstag im Londoner Warenhaus «Harrods» ein zweites «Montreux Jazz Café» eröffnet und für 2013 einen englischen Ableger plant, die richtige ist. Oder ob nicht doch zuerst die Probleme und Baustellen im Heimatort angegangen werden sollten: mit einer bereits angedachten Nivellierung der Preise etwa – beispielsweise mit einer Senkung der teuersten Kategorien und erstmaligem Eintrittspreis fürs Jazz Café – die wiederum verhindern könnte, dass Montreux zunehmend ein hässliches Janusgesicht aus exklusivem Luxus für eine stetig schwindende Randgruppe und Massenabfertigung für den Rest erhält. Und zusätzlich den Nebeneffekt hätte, dass Dank höherer, besser verteilter Einnahmen auch die Unabhängigkeit gegenüber fragwürdigen Sponsoren wieder steigen würde.
Denn spätestens, wenn die vielen englischen Gäste auf ein nahe gelegenes «Montreux Jazz Festival» in ihrer Heimat ausweichen können und auf die Idee kommen, die idyllische Kulisse von Montreux lieber ohne den Rummel und die überteuerten Preise der Hochsaison zu geniessen, muss die Leitung reagieren. Ob Nobs selber mit heute 76 Jahren dereinst noch die Energie aufzubringen vermag, sein Festival neu zu positionieren, steht allerdings auf einem anderen Blatt.