Der australische Regisseur Baz Luhrman zerpflückt in «The Great Gatsby» Amerikas High Society. Und bleibt damit sehr nahe an Scott Fitzgeralds literarischer Vorlage.
Scott Fitzgerald ist auf der sonnigen Seite des Lebens geboren worden. Sein Roman «The Great Gatsby» liest sich wie ein Drehbuch: Bereits in den ersten Sätzen lässt Fitzgerald sein Alter-Ego Nick darauf hinweisen, dass ihm seine Herkunft nicht das Recht gebe, über andere zu urteilen. Wir wissen schon beim Lesen, welcher Film uns erwartet: Fitzgerald liefert eine leichtfüssige, bitterböse Analyse des Establishments, indem er die bürgerlichen Liebesideale zerpflückt. Er beweist auch, dass die High Society die Einhaltung der Moral nur von den anderen verlangt. Nicht aber von sich selbst.
Seit der Erstveröffentlichung hat der Roman zu filmischem Denken angeregt. Kein Wunder, ist er doch selbst ein perfektes Drehbuch. Trotzdem verlangt auch ein gutes Drehbuch ein Statement. Baz Luhrman folgt in der neuesten Verfilmung des Stoffes Fitzgerald und verdeutlicht ihn zugleich: Wie der grosse Schriftsteller legt er Zeugnis über das Leben der amerikanischen Upper Class ab.
Klarsichtig deckt Fitzgerald auf, wie dünn die Luft unter Neureichen, Steinreichen und Altreichen ist: Luhrman tut dies bilderreich, wohlkomponiert. Während die Version der Siebziger Jahre (Francis Ford Coppola schrieb damals das Drehbuch) die Hauptfiguren schwitzen lässt und viele Gefühle investieren statt verschenken lässt, zeigt Luhrman, wie sie sich betrügen und hintergehen, aber nicht verlassen – zumindest verlassen sie nicht ihre Vermögen, und wenn, dann nicht freiwillig.
Trotzdem wird auch bei Luhrman niemand glücklich. Wer sich alles kaufen kann, kann doch eines nicht: In den Besitz von Liebe kommen. Verurteilen will Fitzgerald sie dafür nicht. Sonst wäre seine Analyse auch nicht so brilliant. Luhrman folgt ihm darin, und führt ihn wesentlich weiter, als es je ein Film konnte.
Der Literat als Zaungast der Reichen
Der Erzähler, Nick, lebt als Fondsmanager neben Gatsbys Anwesen. Er wird zu dessen Parties geladen und versteht bald, warum: Gatsby zeigt sich an seiner Cousine interessiert. Der Fondshändler Nick beginnt zu verstehen, dass er nur Teil einer grösseren Intrige ist.
Regisseur Jack Clayton lieferte 1974 ein puppenhaftes Porträt der amerikanischen High Society.
Gatsby, der menschenscheue Neureiche, versucht seinen zweifelhaften Ruf ebenso loszuwerden, wie sich jenen Traum zu erfüllen, für den er so steinreich wurde: Er möchte von jener Frau geliebt werden, um derentwillen er sich hier so prunkvoll niedergelassen hat: Nicks Cousine Daisy!
Dass die derart verehrte Daisy mit dem steinreichen Football-Spieler Tom nicht glücklich verheiratet ist, scheint Gatsbys Ansinnen zu erleichtern. Dass ihr Mann ein Verhältnis mit einer anderen Frau hat, scheint die Lösung zu sein. Gatsby kann – über Nick – also zur Offensive ansetzen.
Ein amerikanisches Weltbild – kurz vor dem ökonomischen Zusammenbruch
In den Siebziger Jahren durfte Robert Redford Gatsby als scheuen Schönling geben. Mia Farrow mimte neben ihm jene fiebrig verwöhnte Daisy. Als Opfer. Als Täterin. Als Ausbrecherin. Ebenso: Als Machthaberin. Regisseur Jack Clayton lieferte ein puppenhaftes Porträt der amerikanischen High Society. Er interessierte sich dabei nur oberflächlich für die zwei Herren-Männer, die um eine Frau buhlen. Tom und Jay. Das dahinterliegende Herren-Prinzip schilderte er kaum.
Luhrman ist da viel fiebriger: Er lässt den altreichen Footballspieler (Joel Edgerton, dessen Bruder Nash im letzten Jahr beim Gässli-Film-Festival in Basel zu Gast war) mit dem Hintergrund der Herrenrasse seine Frau Daisy von Beginn weg offen betrügen. Das Elend des Football-Spielers, der schon in jungen Jahren Rentner ist, deutet er als Elend der Besitzenden. Wer oben bleiben will, darf sich nicht ausruhen.
Luhrman ist aber auch dramatischer: Mit grosser Meisterschaft lässt er die Titelfigur erst von allen Seiten beloben, verehren, beschreiben – ehe er ihr wie dem Tartuffe bei Molière zum grossen Auftritt verhilft. DiCaprio, erst nur mit der Stimme hörbar, dann nur mit dem Rücken sichtbar, taucht am Höhepunkt der Musik mit unerwartet sympathischem Lächeln auf. Da ist die Spannung bereits am Höhepunkt und zugleich auch entschärft.
Luhrman schafft es nicht nur, den Roman um eine Dimension zu erweitern, er befolgt ihn auch klug: Er konstruiert ihn vor unseren Augen. Glotzt nicht so beim Schauen!, scheint er uns sagen zu wollen, wie auch Fitzgerald uns das Recht nicht geben wollte, jemanden einfach nur vorzuverurteilen. Wenn am Schluss des Romans die Liebe bricht, zerbricht in Wahrheit nicht nur das bürgerliche Ideal der Liebe: «Reiche Mädchen heiraten reiche Jungs», hat es Jordan Baker zu Beginn des Romans beschreiben.
Es zerbricht auch die bürgerliche Doppelmoral: Was das Establishment von den Untergebenen erwartet, praktiziert es selbst schon lange nicht mehr. Zerpflückt wird auch das Ideal der Herrenrasse, die davon ausgeht, dass alte Vermögen ehrlich erworben seien. Zum Schluss des Romans gehen die Altreichen als Verbrecher aus dem Spiel, und als – Sieger.
Luhrman spitzt auch das Finale weit dichter als Clayton zu: Als ein Männerduell, dass sich im gegenseitigen Wettbrüsten der Machthaber schon abgezeichnet hat: Besseres Haus! Bessere Parties! Besseres Geld! Besseres Auto! Nach dem offenen Duell der beiden Hähne um die bessere Frau kommt es auf dem Nachhauseweg aus der Stadt zum entscheidenden Fernduell: Daisy sitzt am Steuer von Gatsbys Cabrio und fährt ihre Rivalin tot. Gatsby, bereit sie zu decken, begeht mit ihr Fahrerflucht. Daisys Mann hetzt den Gatten der Toten (seiner Geliebten!) auf Gatsby. Der bringt Gatsby um.
Der Abend jenes Tages, an dem die grosse Auseinandersetzung zwischen James Gatz «Gatsby» und dem Football-Player Tom Buchanan stattfand, bringt auch die Entscheidung: Am Ende ist Daisy eine Mörderin. Tom gab einen Mord in Auftrag. Gatsby war bereit, sich schützend vor Daisy zu stellen. Der letzte maligne Schachzug des Altreichen Tom ist tödlich.
Beobachter im Herrenbunde
Ebenso wie Fitzgerald lässt Luhrman Nick als neutralen Beobachter, als Dritten im Bunde der Herren-Männer, die Geschichte erzählen. Im Film wächst Nick als Go-Between von Gatsby auch in die Rolle als Vertrauter, seiner Cousine wie die seines Nachbarn. Fitzgerald tut das, was er als höchste Form freien Denkens propagiert: Das Eine denken und das Gegenteil tun. Er beschreibt beide Männer als zutiefst in der katholischen Gesellschaft verwurzelt, in der die beiden Liebenden einander sich suchen, ohne sich zu finden.
Luhrman nimmt die gröberen Regungen des Männerkampfes ebenso auf wie die feineren erotischen Mésalliancen der Frauen.
Während die Männer dieser gehobenen Gesellschaft alle, meist unverhohlen, ihre Frauen betrügen, lassen die Frauen, ebenso unverfroren, sich lieber erniedrigen, als sich von ihren Männern, (und ihren Vermögen) zu trennen. Im Gegenteil. Die Frauen nutzen ihr Vermögen, Liebesentbehrung zu ertragen, ebenso wie sie die Vermögen ihrer Männer nutzen, sich Liebe zu kaufen – bei anderen.
Luhrman lässt Nick als Zaungast die gröberen Regungen des Männerkampfes ebenso aufnehmen wie die feineren erotischen Mésalliancen der Frauen, bis hin zum platonischen Schlagabtausch, bis hin zur handfesten Prügelei. Am Höhepunkt, an dem die beiden Geschäftsherren, der Altreiche und der Neureiche, sich schweissnass ihre privaten Beziehungen wie ihre Geschäftsbeziehungen verbal um die Ohren hauen, wird die Moral wieder hergestellt: Die des Stärkeren.
And the Winner is…
Während der Barpianist bei Scott Fitzgerald im Hintergrund Klavier spielt und dazu singt: «One thing’s sure and nothing’s surer/ The rich get richer and the poor get – children», spielt er bei Clayton nur Klavier, ohne diesen Text. Bei Luhrman spielt er eine überdimensionale Wurlitzer, und der Text wird uns gesagt: Vergiss den goldenen Hut nicht, wenn du zur Frau gehst! Reiche Mädchen heiraten reiche Jungs!
Auch hier verdeutlicht Luhrman: Er zeigt erkennbar, dass Gatsby in lusche Börsengeschafte verwickelt ist, ebenso wie in handfeste Machtkämpfe im Gangster-Milieu. Oder ist es das Bondtrader-Milieu? Hier wird längst nicht mehr nur das amerikanische Establishment genannt. Auch Zürich kriegt die Ehre, bei Luhrman genannt zu werden.
Gatsby mit einer dritten Dimension
Luhrman führt uns gleich zu Beginn vor Augen, dass er tiefer in den Roman gelesen hat als seine Vorgänger. Er zieht uns aus der zweiten Dimension der Leinwand in eine weitere, folgt ihr, nicht dem Roman, indem er die Gesetze des Films spielen lässt, die eben der Roman bereits vorausgedacht hat. Da werden Spannungsbögen dramaturgisch ineinandergeschnitten, als sässen wir beim Lesen im Kino und würden im Kino gezwungen zu lesen.
Luhrman verschont uns dabei nicht mit all der technischen Rafinesse, die computergestützen Film so kalt und künstlich bleiben lässt. Er legt aber, ebenso kunstbeflissen wie Fitzgerald, die Konstruktion der Geschichte bloss. Er fügt der Erzähler-Ebene sogar noch eine Meta-Erzählerebene hinzu, indem er den jungen Obligationenhändler die Geschichte seinem Arzt erzählen lässt. Luhrman tut das immer im Bemühen zu beweisen, dass Film in diesem Fall mehr kann als Literatur: Film kann, wie Literatur, die bürgerliche Fassade beschreiben. Er kann sie Bild für Bild deutlich machen, wie es die Literatur Wort für Wort gerade noch schafft. Aber Film kann eben, was die Literatur nur in den seltensten Fällen kann: Er kann sie allen lesbar machen. Auch der Masse des Kinopulikums. Und die ersten Zahlen aus den USA weisen darauf hin, dass es sie gerne lesen will.
In jeder Einstellung bringt sich nicht ein Schauspieler in Pose, sondern ein Prinzip.
Schon mit den ersten Bildern öffnet Luhrman jedermann den Eingang in die Geschichte: Abstossend wie anziehend zugleich lässt er einen Trinker seine Therapie beginnen. Die Rede ist von Jahren, in denen wir, ausser uns zu betrinken und zu feiern, nichts getan haben. Dieses versoffene Wirgefühl deutet gleich an, dass wir uns alle auf das dünne Eis begeben, nicht nur die amerikanische High Society. Erst allmählich wird uns deutlich gemacht, dass was hier an Reichtümern angehäuft wurde, nur auf Pump basiert, oder auf Machtanmassung oder Verbrechen – im Normalfall gar auf allen Dreien.
Dieses Wirgefühl gibt Luhrmans Film nie auf: Er lockt unsere Neugier, um dem brillianten Fassadenspiel von Leonardo DiCaprio in alle Tiefe zu folgen. In jeder Einstellung bringt sich da nicht ein Schauspieler in Pose, sondern ein Prinzip. Wir tauchen in eine Zeit der Hochstapler ein.
Alles nur Fassade
Was Thomas Mann mit Felix Krull erst in den Fünfziger Jahren schaffte, hatte Fitzgerald in den Zwanziger Jahren schon vorausgedacht. Luhrman nimmt es nun auf: Vor der Fassade der Mächtigen herrscht Hochstapelei. Hinter der Fassade lauert der Dreck, der bei jeder Ausbeutung entsteht: Auf der Fahrt von Long Island nach New York dürfen wir bei Luhrman sehen, was das heisst: Eine Industriebrache, eine Riesenmüllhalde, schuftende Nobodies im dampfenden Müll und nur eines wacht über diesen stinkenden Moloch – die Reklamewand mit den beiden grossen Augen eines Optikers.
Jede Einstellung ist hierbei meisterhaft komponiert, als Teil der Montage ebenso wie als Teil der Narration, wie auch als Teil der Konstruktion, auf die der Film immer wieder verweist. Das macht ihn brilliant künstlich, unsympathisch und etwas weich gezeichnet. Das lässt ihn nie ganz ans Herz wachsen. Kamera, Ausstattung und vor allem die Kombination von Schnitt und Musik und wohl auch 3D-Effekte sind fast zu perfekt, als dass sie unsere Fantasie noch wirklich reizen. Es lohnt sich aber sie jetzt schon zu studieren, ehe sie ins Oscarrennen geschickt werden.
Baz Luhrman fächert das Epos wohl schriller, lauter, deutlicher, raffinierter und sublimer auf, als es die an der Shortstory geschulte Vorlage tun konnte, und auch als es Francis Ford Coppola tat. Ohne es dem Publikum leicht machen zu wollen, lädt er dem Skelett der Liebesgeschichte ordentlich viel Fleisch auf: Das macht den Film zu einem barocken Meisterwerk, das auch jenen einen Zugang zu weiteren Tiefen öffnet, die nur die krude Liebesgeschichte sehen wollen. Wer aber gerne auch komplexere Bildkompositionen lesen mag, ist zu einem erlesenen Vergnügen eingeladen.
Zum Schluss rast der Film in ein fulminantes Finale. Erst dürfen die Schauspieler noch einmal alles geben: DiCaprio spielt sich in den letzten fünfzehn Minuten erneut in Oscar-Höhen, ehe die Todesraserei beginnt. Ebenso wie der Roman zündet Luhrman nun all die Lunten, die er bis anhin gelegt hat: Die alteingesessene High Society erschiesst den Neureichen. Daisy, die altreiche Ehefrau, bringt die Geliebte ihres Mannes um. Ihr Mann stiftet den betrogenen Ehemann mit einer Lüge zum Mord an Gatsby an. Gatsby ist tot. Sein Vermögen zerfällt. Daisy und Tom, die Mörderin und der Anstifter zum Mord, bleiben zusammen und entkommen der Justiz. Es ist der Sieg der alten High Society über die Nouveau Riches. Aber es ist weit mehr als das: Es ist der reich bebilderte, rauschende amerikanische Traum, der in der Agonie endet.
- «The Great Gatsby» läuft unter anderem in Basel in den Kinos Küchlin, Eldorado und Rex.