Ein ungehobener Schatz

Die Klassik-Festivals haben Hochsaison. Wer den Rummel in Verbier, Gstaad und Salzburg scheut, der sollte nach Flims reisen. Hier gibt es ein kleines, ambitioniertes Festival, das nicht mehr nur Geheimtipp sein will.

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Die Klassik-Festivals haben Hochsaison. Wem der Rummel in Verbier, Gstaad und Salzburg zu gross ist, der sollte nach Flims reisen. Hier gibt es ein kleines, ambitioniertes Festival, das nicht mehr nur Geheimtipp sein will.

«Fühlen Sie sich wohl hier?», fragt ein Journalist aus Düsseldorf. «Was für eine Frage – natürlich!», antwortet Isabel Faust, eine der interessantesten Violinistinnen der Gegenwart. Ihr Terminkalender ist voll, sie verbringt mehr Zeit auf Reisen als in ihrem Wohnort Berlin. Dennoch legt sie zwischen Auftritten in Dänemark und den USA einen Extra-Stopp in Flims ein. Die Gage für ihr Konzert umfasst drei Tage Kost und Logis für sich und ihre Familie im Grand Hotel Waldhaus Flims. Stars der Klassik-Szene spielen für einen Hotelaufenthalt – wie kann das sein?

«Dies ist ein Kraftort», ist Marcus Bosch, Intendant der Waldhaus Konzerte Flims, überzeugt. Und damit meint er nicht nur die Sonnenterasse des Fünf-Sterne-Hotels, auf der wir unser Gespräch führen. Sondern auch die Natur, die sich hier von ihrer schönsten Seite zeigt: Die tiefe Rheinschlucht mit überwältigenden Aussichten. Der türkisblaue, glasklare Caumasee. Und etwas ausserhalb: Die Tektonikarena Sardona – von der Unesco als Welterbe ausgezeichnete Berglandschaften.

Dazu eine Hotelanlage, die den Charme des späten 19. Jahrhunderts mit dem Komfort des 21. Jahrhunderts kombiniert. Sogar die Kleinsten sind in diesem vergleichsweise unprätentiösen Luxushotel ausdrücklich willkommen – ein betreuter Kindergarten, ein Streichelzoo, ein Spielplatz und Kinderecken in fast jedem der fünf hoteleigenen Restaurants zeugen davon.

Seit vier Jahren mit neuem Konzept

Doch genügt all das, um Weltstars in diesen Winkel von Graubünden zu locken? «Ja, es spricht sich herum», sagt Bosch. Der Geiger Gidon Kremer und der Pianist Lars Vogt traten bereits in Flims auf, in diesem Jahr heissen einige Magneten Peter Wispelwey, Kristian Bezuidenhout, Maria Riccarda Wesseling und Roman Trekel. «Wenn die Künstler hier in aller Ruhe neues Repertoire erarbeiten und dabei noch Ferien mit ihrer Familie verbringen können, dann ergibt das auch im Konzert eine ganz andere Atmosphäre», ist Bosch überzeugt.

Vor vier Jahren bekam Bosch den Auftrag, das Festival neu zu gestalten. Sommerliche Musik gab es in Flims zwar schon länger: In den 80er Jahren spielte das Radiosinfonieorchester Basel zu Gala-Konzerten auf, später wurde unter dem Titel «Waldhausmusik» musiziert, schliesslich traf sich die Avantgarde bei «Flims Klang». Doch experimentelle zeitgenössische Klanginstallationen lockten nicht genügend Sommertouristen in den Wintersportort Flims.

Das soll sich nun mit den «Waldhauskonzerten Flims» endlich ändern – denn sommerliche Logiernächte als Ausgleich zum unsicher gewordenen Wintergeschäft zu generieren ist in Zeiten des Klimawandels die Triebfeder nahezu jedes der vielen Sport- und Kulturspektakels in den Bergen. So auch in Flims, dessen Sommerfestival hauptsächlich von fünf Hotels am Ort getragen wird. Dass Bosch, langjähriger Leiter der Kammerphilharmonie Graubünden und heute Generalmusikdirektor des Bayerischen Staatstheater Nürnberg, dabei auch Orchesterkonzerte realisieren will, liegt auf der Hand – schliesslich ist das seine eigene Passion.

Jugendstilsaal statt Curling-Arena

Doch das diesjährige Eröffnungskonzert zeigte die Problematik dieser Programmstrategie deutlich. Nachdem die Flimser Curling-Arena, die in den vergangenen Festivalausgaben konzertante Opernaufführungen beherbergte und dabei auf nur wenig Anklang beim auswärtigen und einheimischen Publikum traf, aus den Spielstätten ausgeschlossen wurde, finden die Orchesterkonzerte nun im Jugendstilsaal statt.

Er ist mit 450 Plätzen der grösste Saal der Hotelgemeinschaft, doch seine Akustik kippt bei grossen Besetzungen schnell ins Lärmige. «Topfig» nennt dies ein Geiger, nachdem er Johannes Brahmsʼ erstes Klavierkonzert mit dem Pianisten Joseph Moog und Robert Schumanns «Rheinische» Sinfonie gespielt hat, als Mitglied von Boschs Projektorchester «Cappella Aquileia». Dass diese junge Formation hellwach agierte und besonders in den Streichern mit präziser Artikulation dem Hall die Stirn bot, tröstete jedoch nicht über die mangelhafte Intonation der Bläser und die fragile Koordination zwischen den Stimmgruppen hinweg.

Klangfeuerwerke von Kleinbesetzungen

Wie sehr der Saal im Leisen zu tragen vermag, zeigte anderntags das Barockensemble «Al Ayre Español». In Kleinstbesetzung zelebrierten die Spanier Georg Friedrich Händels Londoner Sonaten, zündeten ein Klangfeuerwerk nach dem anderen und deckten dabei all die Dramatik und Theatralik, all die instrumentalen Geschichten auf, die Händel in diese Sonaten legte.

Und auch Isabel Faust und Kristian Bezuidenhout bot der Saal einen guten Rahmen, um Johann Sebastian Bachs Sonaten für Violine und Cembalo von ihrer zarten Seite her zu erkunden. Trotz innig verzahntem Duo-Spiel zeigte sich deutlich, welch unterschiedliche Charaktere hier am Werk waren: Bezuidenhout, der mit seinem eleganten Cembalospiel jeden Ton zum Blühen bringen kann – und Faust, deren Suche nach dem perfekten Klang eine Strenge innewohnt, die auch schon mal etwas Beklemmendes haben kann.

Fausts Annäherung an die historische Aufführungspraxis – sie bespannte ihre baulich modern disponierte Stradivari mit Darmsaiten und verwendete einen Barockbogen – ist ein Kompromiss, der dem hellen Strahlen dieser Violine etwas Wärme gibt, jedoch nicht an den Farbenreichtum in den Mittel- und tiefen Lagen einer Barockgeige heranreicht. Auch ihre Spielweise zeigte ihre feste Verankerung im Repertoire später Jahrhunderte: Ihre Bach-Interpretation trägt die Schwere in sich, die ihm durch seine Interpretationsgeschichte lange Zeit aufgeladen wurde.

Reichhaltiges Angebot – auch für Kinder

Doch Faust ist eine so vielseitige, bewegliche Künstlerin, dass es nicht verwundern würde, wenn sie in einigen Jahren einen ganz anderen Bach interpretiert. Vielleicht sogar bei den Waldhauskonzerten Flims – bis anhin hat jeder Künstler seine Wiederkehr an diesen schönen, entspannenden Ort angekündigt. Und vielleicht entwickelt sich auch ein festes Stammpublikum, das Flims gezielt den vielen anderen gleichzeitig startenden Festivals vorzieht.

Zu wünschen wäre es dem jungen Festival. Denn welches Potenzial in diesem reichhaltigen Angebot steckt – Stars und Newcomer in Liederabenden und Kammermusikkonzerten, eine Kinderakademie mit täglichen Workshops zu den Konzertprogrammen sowie öffentliche Meisterkurse, die das Lehren und Lernen von musikalischer Interpretation auch für das Publikum erfahrbar machen – gleicht noch einem ungehobenen Schatz.

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