Die erste Biografie über den Liedermacher Mani Matter fördert einen engagierten politischen Denker zutage. Geschrieben hat sie der Historiker Wilfried Meichtry. Am Mittwoch liest er in der Basler Buchhandlung Bider & Tanner daraus vor. Die TagesWoche hat vorab mit ihm telefoniert.
1972 verstarb der Berner Troubadour Mani Matter durch einen Autounfall auf dem Weg an ein Konzert nach Rapperswil. Er wurde nur 36 Jahre alt, aber seine Lieder haben bis heute überlebt – und mehr als das: die lakonischen und bitterbösen, hinterhältig lustigen bis melancholischen berndeutschen Chansons sind Deutschschweizer Volkskulturgut und werden bis hinunter ins Kindergartenalter gesungen.
Wilfried Meichtry:
«Mani Matter – eine Biografie»,
Verlag Nagel & Kimche Zürich.
Wilfried Meichtry liest am Mittwoch, 15. Mai, 19.30 Uhr, in der Buchhandlung Bider & Tanner Basel.
Erstaunlich, dass es 2013 werden musste, bis die erste Biografie über Mani Matter erschienen ist. Der Historiker Wilfried Meichtry, Co-Kurator der Matter-Ausstellung im Landesmuseum Zürich und Autor der Biografie «Verliebte Feinde» über das Schweizer Ehepaar Iris und Peter von Roten, konnte für sein Buch über den «Värslischmied» bisher unbekanntes Material aus dem Familienarchiv sichten und ausführliche Gespräche mit der Witwe Joy Matter führen.
Entstanden ist ein Buch, das den Menschen hinter den Liedern vom armen Eskimo, vom verheerenden Zündhölzli und vom blitzschnellen Buben Fritz zeigt: einen politisch engagierten Intellektuellen, der sich bis zur Ernüchterung mit der bürgerlich muffigen Schweiz der Sechziger und frühen Siebziger Jahren auseinandersetzte.
Herr Meichtry, warum dauerte es 40 Jahre, bis eine Biografie von Mani Matter erschienen ist?
Das kann ich nicht allgemein beantworten. Das Interesse war wohl immer da. Joy Matter hat sich in der Vergangenheit in der Regel jedoch nur zurückhaltend zu Mani Matter geäussert. Schliesslich handelte es sich um ihr Privatleben, das durch den Unfalltod einen tragischen Einschnitt erfuhr. Sie hat jedoch realisiert, dass die Vertreter der Generation, die Mani Matter noch persönlich kannte, älter werden und irgendwann sterben. Im Wissen, dass die erste Matter-Biografie sowieso einmal kommen wird, war es für sie nun an der Zeit.
Wie war die Zusammenarbeit mit Joy Matter?
Sie beruhte auf einer Vertrauensbasis, die sich über mehrere Jahre entwickelt hatte. Joy Matter kannte meine anderen Arbeiten und wusste, dass ich nicht auf sensationelle Enthüllungen aus bin, die im Fall Mani Matter sowieso nicht aufzudecken wären. Joy Matter hat mir die Materialien aus dem Familienarchiv zur Verfügung gestellt und wollte das Manuskript vor dem Druck lesen, aber ansonsten hat sie nicht in die Recherche eingegriffen, im Gegenteil: der intensive Austausch mit ihr, die gemeinsame Reise nach Cambridge, wo die junge Familie 1968 für Matters rechtswissenschaftliche Habilitionsarbeit ein Jahr verbrachte, haben das Buch enorm bereichert.
«Mani Matter war ein unkonventioneller, undogmatischer Denker.»
Die Zeit in Cambridge hat sein politisches Denken stark geprägt. Was für ein Intellektueller war Mani Matter?
Einer, über den sich die Auseinandersetzung auf jeden Fall lohnt. Mani Matter war ein unkonventioneller, undogmatischer Denker, sehr witzig und belesen, andererseits aber auch ein Grübler. Eine sinnsuchende Person, die sich philosophisch wie theologisch mit existenziellen Fragen herumschlug. Die andere Säule war sein Verantwortungsgefühl für die gesellschaftliche Entwicklung. Er war bereits in jungen Jahren ein hochpolitischer Mensch, der etwas bewegen wollte.
Seine politischen Ansichten haben sich zur Zeit in Cambridge radikalisiert. War er ein Utopist?
Keineswegs. Die grosse Weltrevolution, für die damals beispielsweise Wolf Biermann auf der Konzertbühne eintrat, hielt Matter für Träumerei. Für Lokalpolitik war er sich nicht zu schade. Matter lässt sich gut mit der Figur des Citoyen von Max Frisch umschreiben, ein Liberaler, der für die persönliche Freiheit eintrat, aber auch den Beitrag des Einzelnen an die Gesellschaft einforderte. Er hat den Staat nicht überhöht, aber auch nicht verachtet. Fasziniert war er von der 68er-Bewegung, der Energie der Studenten, und vor allem vom demokratischen Sozialismus des Prager Frühlings. Wenn der sich etabliere, fand er, könne der Westen mit seiner Trennung von Moral und Wirtschaft, mit seiner Gier nach Rendite und der Erosion der Ethik einpacken.
«Matter war auch als Liedermacher ein zurückhaltender Mensch, der es vermied, Parolen zu dreschen.»
Kaum bekannt gewesen ist bisher seine wichtige Funktion in der «Gruppe Olten», einer Autorenvereinigung, die 1971 als Protest gegen den reaktionären Schweizerischen Schriftstellerverband entstand.
Richtig. Matter war nicht nur Gründungsmitglied, sondern verfasste als Jurist auch die Statuten der politisch linken Gruppe. Das zeigt einerseits, wie sein politisches Denken radikaler und eindeutiger wurde, was auch aus seinen publizistischen Beiträgen dieser Zeit hervorgeht. Andererseits wird seine Nähe zum Literatentum offenbar. Matter war in erster Linie ein Dichter und Schriftsteller auf dem Weg zum Dramatiker, der zusätzlich Chansons schrieb. Es wäre schön, wenn die Biografie dieses Bewusstsein schaffen würde: dass Matter einer der grössten Schweizer Dichter und Chansonnier war.
Gleichzeitig wurde Matter durch seinen Erfolg als Troubadour zum Liebling der bürgerlichen Gesellschaft. Wie ertrug er diesen Widerspruch?
Immer schlechter. Er war sehr ernüchtert von der Schweiz der frühen Siebziger Jahre und hoffte, mit seinen Liedern etwas auslösen zu können. Aber Matter war auch als Liedermacher ein zurückhaltender Mensch, der es vermied, Parolen zu dreschen. Man konnte ihm auch einfach nur lachend zuhören und sich an «Hansjakobli und Babettli» oder «Hemmige» erfreuen. Auf der Oberfläche waren das relativ harmlose Lieder. Deshalb wurde er in seinen späten Jahren markiger und fand, man müsse sagen, was passiere in diesem Land. Das Resultat sind weniger modellhafte, lustige Geschichten, sondern Lieder wie «Nei säget sölle mir» oder «Warum syt ihr so trurig».
Lieder ohne erlösende Pointen.
Genau. Dafür kritischer und direkter.
Wie kam das an?
Ihm blieb fast keine Zeit mehr, diese Lieder zu testen. Es gibt eine Piratenaufnahme von einem Konzert vom September 1972 im Berner Bierhübeli, kurz vor seinem Tod. Bei «Nei säget sölle mir» lachen die Leute anfangs aus Gewohnheit, aber danach wird es still. Das ist wirklich eindrücklich. Das Publikum ist irritiert, der Applaus verhalten. Später singt er am selben Abend noch ältere Lieder, und man spürt förmlich die Erleichterung der Besucher, «ihren» Mani Matter wieder zu haben.
Ihr Buch beschreibt, wie Matter in seinen letzten beiden Jahren mit seinem Erfolg als Troubadour und allgemein mit seinem Leben haderte. Auch seine bekannten Portraitfotos zeigen einen nachdenklichen Menschen. Wurde der «Värslischmied» zum Melancholiker?
Das sind zwei Seiten derselben Medaille. Matter war ein gewitzter, verspielter Mensch, aber auch einer, der permanent reflektierte. Da öffneten sich Abgründe. Bereits der Vater schrieb seiner Frau – damals noch seine Verlobte –, ihm seien die Schattenseiten des grüblerischen Denkens nicht unbekannt. In Matters späten Liedern erahnt man, wie er litt, dass sein Publikum nur lachen wollte, und kaum über die tieferen Seiten nachdachte. Er ist da mit Karl Valentin oder anderen Humoristen und Lyrikern vergleichbar, hinter deren Komik düstere und schwermütige Seiten lagen. Am Schluss war sein Leben durch den Erfolg als Liedermacher derart überfrachtet, dass er darüber nachdachte, es neu zu ordnen.
«Matter hätte das Potenzial gehabt, eine unabhängige, wichtige, moralische Stimme der Schweiz zu werden.»
Hätte Matter länger gelebt, wären seine Chansons schlicht als Frühwerk in seine Biografie eingegangen?
Sie waren ein grosser Anfang. Sein Talent und sein Interesse an grossen Fragen steckten bereits darin. Aber in seinem Todesjahr wurde ihm Theater immer wichtiger, auch als politischer Denker ohne parteipolitische Bindung begann er sich zu formen. Matter hätte das Potenzial gehabt, eine unabhängige, wichtige, moralische Stimme der Schweiz zu werden. Er war in vieler Hinsicht eine unkorrumpierbare Person. Das ist natürlich Spekulation. Aber auch Max Frisch schrieb seinen «Stiller» erst mit 42 Jahren.
Geblieben sind nur seine Chansons. Was ist das typisch Schweizerische an ihnen, das sie über die Generationen hinwegträgt?
Sie sind eingängig und kurz. Wahnsinnig originell und dennoch verständlich. Ihre Inhalte sind nicht zeitgebunden, das macht sie attraktiv. Schon zu seinen Lebzeiten erkannten die Kritiker die raffinierten Kindermelodien, aber auch das Potenzial, das zwei oder drei Schichten tiefer in den Liedern ruhte. Und dass er so zurückhaltend war, gefällt natürlich den Schweizern. Etwas scheu und verlegen, das passt in die Schweizer Mentalität.
Und dass er auf der Höhe seines Erfolgs plötzlich tragisch verstarb, schuf Platz für den Mythos.
Der frühe Tod bedient die Mythenbildung. Ein junger, populärer Sänger, ein Everybody’s Darling, stirbt banal bei einem Autounfall. Nicht erstaunlich, dass in Bern häufig von Selbstmord die Rede war. Es gibt allerdings nicht die geringsten Anzeichen, die dieses Gerücht stützen. Franz Hohler hat mir dies am schlüssigsten widerlegt: Selbstmord hätte Mani Matter nicht auf einer Autobahn begangen, weil er damit andere gefährdet hätte. Mich interessierte aber weniger der Mythos oder der Chansonnier, viel mehr der kluge Kopf, der der Gesellschaft noch heute Anstösse vermitten kann. Mani Matter war ein sehr offener Denker, dem es schwer fiel, sein Denken in eine konkrete Richtung zu zügeln. Antworten bereiteten ihm stets mehr Mühe als Fragen.
Dennoch die Frage: Haben Sie einen Liebling unter Matters Chansons?
Ja, «Dr Parkingmeter». Ein sehr lustiges Stück, aber es widerspiegelt auch seine Situation, stets zwischen verschiedenen Interessen festgeklemmt zu sein und keine Entscheidung fällen zu können. Und drittens ist das Lied auch ein schönes Gleichnis für unsere Gegenwart, für all die Ansprüche an Freiheit und Selbstverwirklichung, die das Leben nicht einfacher machen. Auch wir werden stets zu Entscheidungen genötigt, was immer schwerer fällt. Und am Schluss entscheidet man gar nichts, sondern geht wieder heim, wie der Mann aus dem Lied.