Mötley Crüe vereinen so ziemlich alles, was eine Feministin verabscheut. Und doch freute sich unsere Autorin seit Wochen auf den Basler Auftritt der Glamrock-Veteranen. Auf der Suche nach den Gründen einer seltsamen Faszination.
Wie soll man Rechenschaft ablegen können für seinen Musikgeschmack? Für meinen lehne ich zumindest heute die Verantwortung ab. Mötley Crüe in der St. Jakobshalle, der letzte Schweizer Auftritt der «Crüe». Ende Jahr gibt die Band ihr Abschiedskonzert in Los Angeles, wo vor drei Jahrzehnten ihre Karriere begonnen hatte.
Seit Wochen freue ich mich auf diesen Abend. Erinnerungen werden beim Hören ihrer Musik wach, an eine Kindheit und Jugend im Aargau, eine abgewrackte Dorfbar mit Jukebox, aus der schwere Gitarrenriffs dröhnten, viel Rauch und trübes Licht und die Sehnsucht nach einem unbestimmten Mehr. Heute lebe ich in der Stadt, bin politisch aktiv und engagiere mich für Frauenrechte.
Nun sitze ich im Zug nach Basel, mit mir im Abteil drei Mötley-Crüe-Fans aus dem Toggenburg. Wir sehen uns zum ersten Mal, doch nach zehn Minuten tauschen wir uns aus wie alte Freunde. Wir freuen uns gemeinsam: auf das Konzert, auf das Erlebnis, auf das «Weisst-du-noch-und-kennst-du-auch?». Darum geht es beim Hardrock, dieser Musik für Menschen aus der Mitte der Gesellschaft, die sich aber doch irgendwie als Aussenseiter fühlen, die Anschluss suchen.
Narzissmus, Egozentrik und Machismo
Als Aussenseiter inszenierte sich die Crüe von Anfang an. Und das mit einem Erscheinungsbild, das man rückblickend progressiv finden kann. Die Männer des Glam-Rock posierten offensiv androgyn. Mötley Crüe haben für ein einziges Konzert vermutlich zehnmal so viel Kajal benutzt wie ich in meiner ganzen Teenager-Zeit. Diese sehr weibliche Inszenierung stand in starkem Kontrast zu ihrem sonst so harten Auftreten als Macker. Heute würde so was als metrosexuell gelten.
Viel ist davon nicht geblieben. Heute kommt Sänger Vince Neil daher wie Mickey Rourke in «The Wrestler», doch stimmlich ist er zumindest zu Beginn des Konzerts auf der Höhe. Das erste Stück heisst – na klar – «Girls Girls Girls». Was der Frontmann im Konzertverlauf akustisch und optisch nicht mehr bringt, machen zwei leichtbekleidete Background-Sängerinnen wett.
Diese Band vereint so ziemlich alles, was ich als Feministin verabscheue. Das von ihnen zelebrierte Bild des exzentrischen Rockstars trieft vor Narzissmus, Egozentrik und Machismo. Persönliche Bedürfnisbefriedigung scheint ihr ewiger Antrieb und allgegenwärtiges Thema ihrer Songs. Sie konsumierten Frauen, Alkohol und Drogen gleichermassen, «All in the Name of Rock ’n’ Roll», und ohne Rücksicht auf Verluste. Sänger Vince Neil baute 1984 betrunken einen Autounfall, der seinen Freund Nicholas Dingley, den Schlagzeuger der Band Hanoi Rocks, das Leben kostete.
Drummer Tommy Lee wurde 1998 zu einer Haftstrafe verurteilt, weil er seine damalige Frau Pamela Anderson verprügelte. Pamela, das Fleisch und Silikon gewordene Frauenbild eines Schwanzrockers. Dazwischen: Schlägereien, Überdosen, Entzüge. Von allen Protagonisten der 1980er-Glam-Rock-Szene waren Mötley Crüe mit Abstand die bösesten Buben. Und, so viel wird nach der Lektüre ihrer 2002 veröffentlichten Band-Biografie «The Dirt» klar, verspüren darüber in der Selbstbetrachtung wohl auch stellenweise Reue.
«Es braucht nur einen Funken Empathie, um sich auszudenken, welchen Flurschaden vier Vollidioten auf Rockstar-Mission hinterlassen – vor allem bei Frauen.»
Auf ihr Image sind die Jungs – damals wie heute – aber weit stolzer als auf manche ihrer Songs. Es braucht nur einen Funken Empathie, um sich auszudenken, welchen Flurschaden vier manische Vollidioten auf Rockstarmission über Jahrzehnte in ihrem Umfeld hinterlassen haben: bei Familie, Freunden – und vor allem bei Frauen.
Frauen und Rock ’n‘ Roll. Eine schwierige Beziehung, zweifellos. «Bist du ein Groupie?», wollte meine Zugbekanntschaft als Erstes von mir wissen. Groupie ist offenbar die einzige Rolle, die der Frau in der Chauvi-Rocktradition zugestanden wird, und ihr Platz ist in der ersten Reihe oder backstage… Groupies sind eine Erfindung des Patriarchats. Den Begriff gibt es seit den 1960er-Jahren und er beschreibt gewissermassen ein permanent verfügbares Nebenprodukt der sexuellen Befreiung der 68er.
Nur wird diese Befreiung nach wie vor etwas einseitig gefasst. Bandmitglieder, die mit Frauen Sex haben, sind heldenhafte Rockstars. Frauen, die mit Rockstars Sex haben, sind namenlose Groupies. Irgendwie absurd. Drehen wir die Sache mal feministisch um und nehmen an, das Recht, Sex zu wollen, gälte für beide gleich: Dann gibt es wohl kaum eine selbstbestimmtere Art, sein Begehren auszudrücken, als einem Typen einen BH ins Gesicht zu schmeissen und zu schreien: «Ich will dich.»
«Wir wagten kaum, von mehr zu träumen, doch wir standen zusammen, Mädchen und Jungs, tanzten zu Bands, die Träume lebten.»
Den BH will ich heute nicht schmeissen. Ich suche aber auch bestimmt keinen politisch korrekten oder intellektuellen Zugang zur Musik von Mötley Crüe. Es geht um ein emotionales Erlebnis und meine Nostalgie. Darin allein gründet meine Liebe für Bands wie Alice Cooper, Kiss, Guns n’ Roses, Europe, Bon Jovi oder eben die Crüe: Es ist Nostalgie den jungen Menschen gegenüber, die wir damals waren. Jung, verletzlich und unsicher über unseren späteren Platz.
Wir wagten kaum, von mehr zu träumen, doch wir standen zusammen, Mädchen und Jungs, vor dieser Jukebox, Rauch und schummriges Licht und tanzten zu Bands, die Träume lebten. Harte Riffs, Glitzer und Glam, und irgendwo der Gedanke: Auch deine Zukunft kann glänzen. Mötley Crüe waren keine «rich kids». Sie stammen aus keiner Elite, weder intellektuell noch finanziell. Sie kamen von unten, Haarspray und Plateauschuhe hoben sie hoch.
Diese Herkunft beschwört auch Nikki Sixx, als er nach zwei Dritteln des Konzerts zu seiner Abschiedsrede anhebt, die beinahe klingt wie eine Entschuldigung, dass die Band 2015 noch immer auf der Bühne steht: «If you want something and someone tells you, you’re never gonna make it, you just keep doing it.»
Eines Tages, fährt Sixx fort, wird dir jemand begegnen und sagen: Mötley Crüe sind ziemlich cool. Dann gibst du zur Antwort: Ich war am letzten verdammten Konzert von Mötley Crüe in der St. Jakobshalle in Basel. Hell yeah.
«Ich will nicht mit Tommy backstage. Ich will auf sein Schlagzeug, hoch über der Masse unterm Hallendach.»
Damit noch nicht genug des Pathos. Die Bühne wird dunkel, es ertönt das pseudo-mittelalterliche «Carmina Burana», und Schlagzeuger Tommy Lee fährt bei seinem zehnminütigen Solo kopfüber über dem Publikum hin und her, klaut alles zusammen, was in der Rock- und Popgeschichte so rumliegt und schreit zum Ende: «All of my life this fucking rollercoaster has been a dream for me.» I’m with you on that one, Tommy, denk ich mir.
Und nein, keinen Augenblick lang stelle ich mir vor, mit Tommy Lee hinter die Bühne zu verschwinden. Ich bin kein Groupie. Ich will nicht backstage, sondern hoch unters Hallendach – auf einem fliegenden Schlagzeug in die Felle dreschen, über der Masse, all in the Name of Rock ’n’ Roll.
Hardrock ist verlässlich, gibt Halt wie alte Freundschaften, wie unsere Clique damals. Jedes Album folgt dem gleichen Schema: zwei Handvoll harte Rocknummern, der eigentliche Höhepunkt aber ist die Powerballade, der Minnesang der 1980er. Ohne die Liebe sind wir alle nichts, ohne die Liebe ergibt das ganze Theater keinen Sinn.
Mötley Crüe wissen das und heben sich die Powerballade für die Zugabe auf. «Home Sweet Home» heisst das Lied, in dem Vince Neil barmend singt: «You know I’m a dreamer / But my heart’s of gold / I had to run away high / So I wouldn’t come home low.» Auf den Videowänden sieht man Aufnahmen der Musiker als junge Männer. Spätestens jetzt bringen uns Mötley Crüe dahin, wo wir schon den ganzen Abend hinwollten. Heim, an einen Ort, wo wir uns nie zu Hause fühlten und uns doch immer hinträumten.