Vor vier Jahren begeisterte Patricio Guzmán mit «La nostalgia de la luz»: Wie der Filmessay den Blick auf den sternenklaren Himmel über Chile richtete und gleichzeitig in den Abgrund der Pinochet-Diktatur blickte, war ebenso verblüffend wie erhellend.
Zur Vorpremiere seines neuen Films «El botón de nácar», der an der Berlinale 2015 mit einem Silbernen Bären ausgezeichnet wurde, hat der chilenische Regisseur mit seiner Frau, Übersetzerin und Produzentin Renate Sachse das Stadtkino Basel besucht. In seinem neuen Film geht es um die Ureinwohner Chiles, das Gedächtnis von Wasser, Astronomie und einen Perlmuttknopf, der alles zusammenhält.
Herr Guzmán, als ich Ihren Film «La nostalgia de la luz» zum ersten Mal sah, war ich sprachlos. Ich wusste nicht, was das war: Dokumentation, Essay, Fiktion. Wie würden Sie ihn selbst beschreiben?
Ich bin selbst nicht ganz sicher, in welchem Gebiet ich mich da bewege, aber das hat auch etwas Positives. Ich finde das gut, mit sich selbst zu experimentieren und nicht zu wissen, wohin es dann geht. Das ist ein fruchtbares Gebiet, auch für die eigene Kreativität. Ich glaube, dass sowohl «La nostalgia de la luz» wie auch «El botón de nácar» zum selben Genre gehören, auch wenn ich nicht weiss, wie man das benennen soll. Es gefällt mir aber sehr, weil ich damit ausdrücken kann, was ich fühle.
Sie haben mit reinen Dokumentarfilmen begonnen, «La batalla de Chile» (1975–1979), der von den politischen Spannungen in Ihrer Heimat handelt. Wann haben Sie gespürt, dass es mehr braucht, als nur die Wirklichkeit abzubilden?
Das ist lange her. Das war 1992, als ich in «La Cruz del Sur» erstmals Dokumentation und Fiktion mischte. Und es hat funktioniert. Danach bin ich davon wieder etwas abgekommen, bis ich mich mit «Nostalgia» und «Boton» wieder sicherer auf diesem Terrain fühlte. Woher diese Zweifel kommen, weiss ich nicht. Vielleicht erfinde ich sie selber. Aber ich habe auch sehr viel Vergnügen daran zu entschlüsseln, was in meinem Kopf vorgeht.
An Ihren Filmen fasziniert das Wechselspiel zwischen Chile und seiner Bevölkerung: Einerseits scheint die Geografie zu bestimmen, was mit den Menschen passiert, andererseits speichert das Land deren Geschichte. Wie sehen Sie das?
Interessante Frage. Die Landschaft ist wichtiger, zumindest glaube ich das im Augenblick. Die Menschen kommen ganz natürlich in diese Landschaft, so wie die Sonne aufgeht. Zwischen diesen beiden Polen fühle ich mich sehr frei, meine Geschichten zu erzählen.
Es gibt bei Ihnen immer wieder überraschende Zusammenhänge, wie etwa den titelgebenden Perlmuttknopf in ihrem neuen Film «El botón de nácar», der zweimal in unterschiedlichen Kontexten auftaucht. Existieren diese Zusammenhänge von Anfang an, oder sind das eher Zufälle?
Nein, das sind Entdeckungen. Ich war sicher, dass ich etwas finden würde, ich wusste am Anfang einfach noch nicht, was. Aber mit dieser Gewissheit habe ich den Film begonnen.
«Es gibt Momente, da bin ich ganz im katholischen Glauben, aber ebenso schnell bin ich wieder draussen.»
Sie haben Film an der Katholischen Universität von Chile studiert. Wie wichtig ist Ihnen der Glaube?
Es gibt Momente, da bin ich ganz im katholischen Glauben, aber ebenso schnell bin ich wieder draussen, das ist ein ständiges Hin und Her. Das Dazwischen gibt mir die Möglichkeit, schöpferisch tätig zu sein.
In Ihrem Ansatz steckt etwas Alchemistisches: Das Grosse spiegelt sich im Kleinen und umgekehrt.
Genau so ist es. Und die Alchemie hat ja genau diesen doppelten Ausgang: Sie ist gleichzeitig wahr und falsch.
Chile ist das Hauptthema in Ihren Filmen, dabei leben Sie schon länger in Paris. Was hat sie dazu bewogen, aus Ihrer Heimat wegzuziehen?
Das weiss ich nicht. Ich glaube nicht, dass ich heute in Chile leben könnte, aber ich habe so das Gefühl, als könnte das auch falsch sein, was ich gerade sage. Ich glaube, was vorherrscht, ist die Erinnerung. Und die ist unabhängig vom Wohnort.
Halten Sie sich über das politische Geschehen in Chile auf dem Laufenden?
Nicht im Detail. Aber ich fühle, als wäre das Land gleich um die Ecke. Mein Land ist eigentlich immer zur Hand, auch wenn ich gar nicht da bin. Dieses Dasein und Nicht-Dasein liefert den Stoff für meine Filme.
Bevor die weissen Kolonisatoren nach Chile kamen, lebte dort bereits ein seefahrendes Volk.Glauben Sie, dass Chile seine Vergangenheit bewältigen wird?
Ich glaube nicht, dass Chile sich je erholen wird. Es wird eine andere Wirklichkeit geben, von der wir noch nicht wissen, wie sie aussieht. Was man zurückgewinnen muss, ist die Wahrheit. Aber das, was war, wird nicht wieder geschehen. Aus der Vergangenheit zu lernen ist sehr wichtig, gerade für die Zukunft. Darin liegt der Schlüssel, im Guten wie im Schlechten.
Die Aufarbeitung von Chiles politischer Vergangenheit ist nicht mehr so präsent in «El botón de nácar». Zeichen eines Ablösungsprozesses?
Vielleicht ist das so. Andererseits nähert man sich einem Thema ja an, je weiter man sich davon entfernt. Ich glaube nicht, dass ich mich je davon loslösen kann. Ohne Erinnerung gibt es ja auch kein Zuhause.
Dann werden Sie sich weiter mit Chile beschäftigen?
Ja. Ich denke über einen Film nach, der von der Gebirgskette der Anden handelt. Ich werde Menschen finden, die dort leben, keine Ahnung warum, aber ich werde herausfinden, was sie denken. Und die Berge sind sehr interessant, man findet dort alles Mögliche. Die Anden sind wie eine Mauer, die Chilenen merken das oft gar nicht, weil sie das Flugzeug nehmen. Erst wenn sie zurückkehren, fällt es ihnen auf. Dann können sie diese Art von Eingeschlossenheit fühlen.
Wie reagiert das Publikum in Chile auf Ihre Filme?
Das Publikum ist sehr klein, weil sich heimische Filme nicht so leicht vertreiben lassen wie US-amerikanische. So geht das allen chilenischen Filmemachern, wir sind auch eingeschlossen, weil wir keine ökonomischen Mittel haben. Uns fehlt der Atem. Aber das macht nichts. Das Publikum ist ja universal.