Allzu kontrollierte Klangkaskaden: Die britische Band Archive entzaubert sich bei ihrem Gastspiel im ausverkauften Basler Volkshaus.
Ein Archive-Auftritt, das ist mehr als nur das Konzert einer x-beliebigen, britischen Indieband – das ist ein Basler Fixtermin, eine Art «Rolling Stones»-Gig für den Amateur alternativer bis avantgardistischer Klänge, für den Trip-Hop-nostalgischen Thirtysomething: Da geht man hin, auch wenn einen das letzte Werk (in diesem Fall das Doppelalbum «Controlling Crowds», das es 2009 sogar in die Schweizer Top Ten schaffte) nicht vom Hocker riss. Denn Archive, das bedeutet bei vielen Konzertbesuchern auch eine der letzten Konstanten im Plattenschrank, eine der einzigen Konsens-Bands, die es 15 Jahre nach den Dank «Londinium» (1996) wohlig durchlittenen Teenietagen noch aufs iPhone 4 geschafft hat. Keine schlechte Leistung, möchte man meinen, insbesondere angesichts der unzähligen Besetzungs- und Stilwechsel.
Dies erklärt auch, warum das gestrige Konzert im Volkshaus trotz vergleichsweise wenig Werbung bereits im Voraus ausverkauft war, erklärt den vergleichsweise hohen Altersdurchschnitt der Besucher – und die Ernüchterung, die einem beträchtlichen Teil der treuen Fangemeinde am Ende des Abends ins Gesicht geschrieben stand. Denn Archive standen immer auch für eine unterkühlte Epik, für lodernde Verzweiflung unter der eleganten, elegischen Oberfläche, für intellektuell gezähmten Weltschmerz.
Lärmig, schrill, bombastisch
Gestern Abend aber stand auf der Volkshausbühne eine Band, die alles andere als subtil daher kam, die auf alle Zwischentöne des Albums pfiff und schamlos dem Pathos huldigte: Lärmig, schrill, bombastisch. Vom schwarzen Einheitstenue über die peinlich genau ins Gesicht gekämmten Fransen bis zur einstudierten Rockstargeste mit emporgerecktem Mikroständer, vom sorgsam aufeinander abgestimmten Sample-, Schlagzeug- und Strobogewitter über die heulenden Gitarrenriffs bis zur hysterischen Synthiefanfare: Da wird allzu kontrolliert auf der Klaviatur der Emotionen gespielt, das ist purer Emo für Erwachsene.
Maria Q’s Gesang: nölig wie zu besten Britpop-Zeiten. Die unheilschwangeren Breakbeat-Sequenzen: altbacken wirkende Trent-Reznor-Kopien. Rosko Johns Rapeinlagen: Näher bei Zack de La Rocha (oder gar Linkin Park) als bei den Anfängen von Archive. Noch schlimmer: Durch die effekthascherische Umsetzung, durch Dauerbeschallung mit der guten alten «Wall of Sound», offenbaren sich plötzlich auch die Arrangements als erschreckend simple Rockmotive, die Abhandlung der Kontrollgesellschaft als Albumthema banal bis berechnend, verschwörungstheoretisch gar. Die solide, eingängige, stromlinienförmige Umsetzung von «Controlling Crowds»: Eine eigentliche Entzauberung.
Bange Fragen, grosse Hoffnungen
Bleibt die bange Frage, die als Damoklesschwert über dem Volkshaus hängt: War das schon immer so? Ist man irgendwann, nach fünfzehn langen Jahren, einfach aus dem Archive-Alter raus? Doch dann, endlich, zum Schluss: Die Anfangsakkorde der unvergesslichen Hymne «Again», diesem fast 20-minüten Monster aus Herzschmerz und Weltuntergangsstimmung, so intensiv und packend wie beim ersten Hören im Jahr 2002.
Und erleichtert stellt man fest: Nein, das war nicht immer so. Früher waren Archive nicht nur eine gute Indieband, sie waren furios und gross, und kamen ihren Vorbildern Pink Floyd und Radiohead nahe, sehr nahe sogar. Und diese Gewissheit ist es, die einen auch bei ihrer nächsten Basler Stippvisite wieder reinschauen lassen wird, bei der Band, die solche Perlen im Archiv hat, und der man so lange treu bleibt, wie das im Kopf nachhallende «Again» die Hoffnung nährt, noch einmal Zeuge einer solchen Sternstunde zu sein.