Emotionen bis in die Zehenspitzen

Welches Mädchen träumt nicht davon, schwerelos im weissen Tutu über die Bühne zu schweben? Ein Porträt über den Traumberuf Ballerina.

Mädchen träumen davon, Ballerina zu werden. Hat es sich ausgeträumt, wenn die Berufung zum Beruf wird?

Versunken vor dem Fernseher litt man mit, wenn sich Silvia Seidel alias «Anna» in der gleichnamigen Fernsehserie ihren Körper gefügig machte, um tänzerische Höchstleistungen zu erbringen. Jungs interessierten sich plötzlich für klassisches Ballett – oder waren ein bisschen in die attraktive Tänzerin verliebt. Das war 1987. Und fünfjährige Mädchen hatten nur noch einen Berufswunsch: Ballerina werden! Doch wie steht es um den einstigen Traumberuf heute?

Der klassische Tanz scheint zu streng, zu verstaubt, zu elitär zu sein, um als TV-Castingformat zu taugen. So wie sich das Fernsehprogramm verändert hat, ändern sich auch ­Traumberufe von Kindern und mit ­ihnen die Anforderungen an den erträumten Beruf.

Liebe auf den ersten Tanz

Wie eine junge Tanzkarriere jenseits konventioneller Vorstellungen aussehen kann, zeigt das Beispiel der jungen Profitänzerin Roberta Parmiggiani (22). Ab nächster Saison ist sie Junior-Mitglied der Company des Ballett Basel. «Als ich zu tanzen begann, bedeutete tanzen für mich einfach nur Spass – ich hätte nie gedacht, dass das mein Beruf sein könnte», sagt sie. Ob sie als kleines Mädchen den Wunsch gehegt habe, im weissen Tutu und auf Zehenspitzen über die Bühne zu schweben? «Nein», antwortet sie – als Kind interessierte sie sich für Karate und andere Sportarten. Eines Tages improvisierte ihre Schwester im Wohnzimmer und sie versuchte, mitzuhalten – darauf schickte sie ihre Mutter auch zum Unterricht. Nach nur einem Jahr Training war es um sie geschehen. «Ich verliebte mich ins Tanzen», erzählt sie mit leuchtenden Augen. Von da an ging die tänzerische Karriere steil bergauf.

Grosses Glück habe sie mit ihrer Lehrerin Eleonora Coccagna vom Staatstheater Braunschweig gehabt. Diese sah ihr Talent und war überzeugt, dass sie eine Profitänzerin werden würde. Seit zwei Jahren kann Parmiggiani ihre ersten professionellen Erfahrungen als Stipendiatin beim Ballett Basel unter der Leitung von Richard Wherlock machen. Gibt es noch Träume für die Zukunft? «Mit anderen grossen Choreographen arbeiten wie dem spanischen Nacho Duato», sagt Parmiggiani.

Wünsche wachsen

Ortswechsel, die begrenzte professionelle Zeit, der Konkurrenzkampf innerhalb der Company: Alle negativen Seiten des Berufs – pardon, der Berufung, wie Catherine Brunet, Managing Director des Ballett Basel, präzisiert – werden in Kauf genommen und als positiv, gar als befähigend erlebt. «Aber wenn der Körper so schmerzt, dass der Spass verloren geht, dann ist es Zeit aufzuhören», sagt Brunet.

Mit 35 Jahren ist für eine Profi­tänzerin in der Regel Schluss. Ob sich Parmiggiani vorstellen kann, nach der aktiven Bühnenzeit als Tanzlehrerin zu arbeiten? Eher nicht, «aber Wünsche wachsen mit den Jahren», sagt sie. Mit zwölf Jahren nahm Parmiggiani Unterricht in zeitgenössischem Tanz. Anfangs waren es drei bis vier Lektionen pro Woche. Nach zwei Jahren trainierte sie jeden Tag. Wie viel Zeit hat sie investiert? «Bis zu acht Stunden. Am Morgen ging ich zur Schule, am Nachmittag trainierte ich bis 20 Uhr», sagt sie.

Auf Anraten ihrer Lehrerin fing sie mit 14 Jahren mit klassischem Ballett an. Das ist eigentlich spät. Doch ihr Körper schien gemacht für den Tanz. Mit 16 stand sie auf den Zehenspitzen: «Es ist schmerzhaft, aber das ist der Einsatz, den du leisten musst, wenn du professionell tanzen willst», sagt Parmiggiani. Das Ausloten der physischen Grenzen ist Teil der Leidenschaft. Zu dieser Leidenschaft gehört auch der Verzicht: «Ski fahren – vergessen Sie es. Diese Beine sind Gold wert!», wirft Managerin Brunet ein. Shoppen gehen mit der Freundin? Findet Parmiggiani langweilig. Lieber trainiert sie.

Erwartungen ändern sich

Gibt es ihn noch, den Traumberuf «Ballerina»? Richard Wherlock, seit zehn Jahren Direktor des Ballett Basel, winkt gleich mal ab: Es ist der Begriff «Ballerina», der ihn stört. Dieser rufe ein Bild hervor, das es so nicht mehr gebe: «Die ‹Ballerina› gibt es heute in vielen Companien und an grossen Opernhäusern auf der ganzen Welt – aber jede ist anders», erzählt er.

In den letzten 20 Jahren habe sich im Tanzwesen extrem viel verändert. Eine der Ursachen sieht Wherlock im Publikum: es wolle nicht mehr «zwei Pirouetten und zwei Sprünge» sehen, sondern erwarte grosse Emotionen mit «Blut, Schweiss und Tränen».
Für eine Company heisst das: Sie muss die ganze Vielfalt an zeitgenössischen Stilen bieten, die Tänzerinnen und Tänzer müssen moderne wie auch klassische Techniken beherrschen.

Ensembles, die sich dem strengen Formenvokabular des klassischen Balletts verschrieben haben, existieren an grossen Opernhäusern immer noch, betont Wherlock: «Man sollte die Tradition nie vergessen.» Genau diese Tradition des klassischen Balletts fehle leider in der Schweiz. Der Nachwuchs an jungen Tänzerinnen und Tänzern sei zwar stark, die Ausbildungsmöglichkeiten seien aber noch nicht genug entwickelt. Angehende Profis würden – so auch die gängige Praxis früher – ins Ausland gehen, erklärt Wherlock.

«Ballerina» ist heute noch Berufswunsch

Dem widerspricht Gianni Malfer von Dance Suisse, dem Verband der Schweizerischen Tanzschaffenden: Seit 2009 bietet die Tanzakademie Zürich, zugehörig zur Hochschule der Künste, den Studiengang Bühnentanz mit dem Schwerpunkt Klassisch Akademischer Tanz an. «Von sieben Absolventen bekommen sechs ein Engagement», gibt Malfer Auskunft. Im In- und Ausland würden diese Tänzer und Tänzerinnen in namhaften Ensembles engagiert.
Malfer sieht vielmehr darin ein Problem, dass der Beruf «Ballettlehrerin» in der Schweiz nicht geschützt und keiner einheitlichen Qualitätsregulierung unterworfen ist. Der Verband Dance Suisse kontrolliert deshalb Schulen. Auch organisiert er einmal im Jahr einen Informationstag: Dort absolvieren die Kinder zwei Trainings, davon eines in klassischem Ballett. Auch ein zwei­minütiges Solostück wird vorgetanzt.

Zudem wird von den Kindern ein Motivationsschreiben und eine Skizzierung des Berufswunsches verlangt. In diesen Zeilen taucht gemäss Gianni Malfer der Berufswunsch «Ballerina» heute noch oft auf. Der klassische Tanz – er ist noch immer ein Traumberuf.
Die Körper der Kinder müssen bei medizinischen Tests bestehen – insbesondere die Füsse und die Hüftgelenke müssen für die hohen Belastungen und Rotationen geschaffen sein. Bei einem negativen Befund kann der Traum «Ballerina» wie eine Seifenblase platzen. Muss er aber nicht, sagt Malfer. Denn oft würden genau jene Kandidaten, die mit körperlichen Herausforderungen zu kämpfen hätten, den nötigen Ehrgeiz entwickeln, um ein professionelles Niveau zu erreichen.

Vorurteile nehmen ab

Reden wir immer von Ballerinas, so geht unter, dass es auch männliche Tänzer gibt, ja geben muss. Während die Zahlen der Mädchen konstant sind, ist bei den jungen Tänzern gar eine Zunahme feststellbar, wie Ballettdirektor Richard Wherlock erzählt. Der erfolgreiche englische Film «Billy Elliot» (2000), dessen Hauptfigur statt ins Boxtraining zum Ballettunterricht geht, hat dazu beigetragen. Wie Billy Elliot musste sich auch Wherlock einst gegen den Willen seiner Eltern durchsetzen, die ihn als Rechtsanwalt sahen. «Oh my god, mein Sohn ist schwul!», habe seine Mutter ausgerufen, als er ihr vom Berufswunsch erzählte. Vorurteile wie diese hätten in den letzten 20 Jahren abgenommen, sagt Wherlock, der mit einer Tänzerin verheiratet ist. Auch wenn der Hollywood-Film «Black Swan», mit dem Natalie Portman 2010 einen Oscar einheimste, ein destruktives Bild der Ballerina zeichnete: Die Stigmatisierung des Tanzberufes hat abgenommen.

Am Interesse mangelt es nicht. Viel eher am Durchhaltewillen. Im Ballettunterricht werden anfangs nur langsam Fortschritte erzielt. Nicht alle halten durch: Zu repetitiv ist der klassische Unterricht, zu wenig Bewegungen, die so aussehen wie bei den Grossen.
Ise Leukern von der Basler Ballett-Akademie Maria Gorkin ist der Meinung, dass viele Kinder heute zu schnell aufgeben. Auch wenn Ballett «nur» als sportliches Hobby dient, braucht es viel Disziplin. Dass diese fehle, führt sie auf die Konsumgesellschaft zurück: Kinder wollen heute lieber fünf verschiedene Hobbys ausüben, als sich zu konzentrieren.

Galina Gladkova-Hoffmann, ehemalige Solistin und Ballettpädagogin der Basel Dance Academy, sagt nachsichtig, dass Kinder zwar weniger belastbar seien. Mit Drill aber erreiche man wenig. Ihre Schule ist neben dem Ballett Basel eine von zwei Stellen, die ein professionelles Ausbildungsprogramm für angehende Profis in Basel anbietet. «Kinder können nicht überfordert werden, solange sie ihre Ziele selber setzen und diese auch erreichen möchten», sagt sie. Oder wie es Roberta Parmiggiani formuliert: «Entweder du liebst es oder du liebst es nicht – Tanzen funktioniert so.»

Die nächste Premiere des Ballett Basel:

  • Freitag, 20. April, Premiere, Grosse Bühne, Theater Basel, «Romeo & Julia»

Die nächsten Aufführungen der Basel Dance Academy:

  • Samstag, 28. April,  20:00 Uhr, Scala Basel «Café des Artistes»
  • Samstag, 30. Juni, 19:00 Uhr, La Coupole, St. Louis, F,  «Summerdances» 

 

 

 

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 23.03.12

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