«Es hat eine musikalische Globalisierung stattgefunden»

Das Jugendchor Festival in Basel hat am Mittwoch begonnen. Ins Leben gerufen wurde es vor 20 Jahren. Seither hat sich viel getan in der Chorlandschaft der Schweiz, sagt Festival-Leiterin Kathrin Renggli im Interview und verrät, was sich mit dem Fall der Berliner-Mauer verändert hat.

Der kubanische Jugendchor «Solfa» singt in Basel. (Bild: zVg)

Im Interview erzählt Kathrin Renggli, Leiterin des Europäischen Jugendchor Festivals, wie dieses sich in den letzten 20 Jahren verändert hat und wie sich die Schweizer Chorlandschaft heute gestaltet.

TagesWoche: Das Europäische Jugendchor Festival ist mit 1400 Teilnehmern sehr gross: gibt es andere, vergleichbare Jugendchorfestivals in Europa?

Kathrin Renggli leitet seit zehn Jahren das Europäische Jugendchor Festival.

Kathrin Renggli leitet seit zehn Jahren das Europäische Jugendchor Festival. (Bild: zVg)

Kathrin Renggli: Es gibt natürlich andere Jugendchorfestivals. Aber das hier in Basel ist wirklich einzigartig. Erstens sind wir, im Gegensatz zu vielen anderen, kein Wettbewerb. Zudem ist es so, dass sonst die meisten Festivals so aufgebaut sind, dass Jugendliche für Jugendliche singen, sich in Workshops und Begegnungskonzerten treffen, aber die Konzerte sind nicht an ein breites Publikum gerichtet. Das ist in Basel einmalig: dass man mit Kindern und Jugendlichen – also Laien – 22’000 Besucher anlocken kann. Das funktioniert nur, weil es Topchöre sind und wir total am Puls der Zeit bleiben und aktuelle Themen aufgreifen.
Wir haben auch viele Gäste, die sich in der Szene auskennen und nach guten Formationen Ausschau halten. Letztes Mal befassten wir uns mit dem Thema «Bewegung» oder dieses Mal mit «elektronischer Verstärkung», beim Dänischen VocalJazz Ensemble ist eine solche zum Beispiel nötig. Bei vielen anderen Stilen ist das aber nicht der Fall. Ich bin der Meinung, dass man durchaus ohne Verstärkung singen kann.

Wer wählt die Chöre aus, die meisten werden ja per Einladung gebucht?

Ich reise viel herum, höre mir die Chöre an und komme mit Vorschlägen nach Hause, wo dann der künstlerische Beirat (David Wohnlich, Raphael Immoos, Christoph Huldi) mit mir zusammen eine Auswahl trifft. Wir erhalten zusätzlich ca. 80 Selbstbewerbungen und Empfehlungen. Es gibt also durchaus verschiedene Wege, wie ein Chor ins Programm gelangen kann.

Wie sichern Sie die Qualität der Chöre?

Es ist oft so, dass die Qualität des Chorleiters zentraler ist als die aktuelle Besetzung der Singenden. Wenn wir einen Chor drei Jahre vorher buchen, können wir nicht mit Sicherheit wissen, welches Kind dann effektiv bei uns auftreten wird. Bei Kinder- und Jugendchören gibt es aus Altersgründen natürlich sehr viele Wechsel.

Wie breit ist die Alterspanne der auftretenden Chöre dieses Jahr?

Dieses Mal haben wir von Zehnjährigen (Portugal) bis zu 25-Jährigen dabei. Meistens sind es aber Chöre ab Gymnasialstufe, das Segment der unter 15-Jährigen ist eher klein.

Seit 2010 wird das Jugendchorfestival biennal anstatt alle drei Jahre durchgeführt. Was bietet das für Vorteile?

Wir erreichen damit mehr Kontinuität und können das bereits vorhandene Know-how der 800 Freiwilligen so besser nützen. Auch mit den Ämtern ist die Zusammenarbeit einfacher. Man weiss nun, jedes Jahr im Mai in den geraden Jahren findet das Europäische Jugendchor Festival statt. Und nicht zuletzt scheint auch das Publikum und die Chöre diese Änderung zu begrüssen.

2012 findet das Festival zum achten Mal statt, vor 20 Jahren wurde es ins Leben gerufen. Was sind ihre persönlichen Highlights der diesjährigen Ausgabe?

Es ist schwierig, Highlights zu nennen, da wir ja auf die Vielfalt der Chöre setzen. Ein Chor von jungen Männern, die vor allem in russisch-orthodoxer Literatur stark sind, ist schwerlich mit einem kubanischen Jugendchor, der vor karibischer Lebensfreude sprüht, zu vergleichen.

Lässt sich für die Anfangsjahre des Festivals einen Unterschied im Vergleich zu heute feststellen?

Für die Chöre beobachte ich Folgendes: Als man 1992 das Festival gründete, war das kurz nach der Wende (1989). Der Osten hatte sich bis dahin «versteckt», bei uns wusste man nicht so genau, was da musikalisch passierte. Die Neugier, was von dort an Kultur kommt, war riesig, es gibt jetzt noch Leute, die von ihren tiefen Erlebnissen an Konzerten solcher Chöre aus den ehemaligen Ostblock-Staaten begeistert erzählen und auch von Schwierigkeiten berichten, zum Beispiel mit den Bussen, bei denen die Türen abfielen. Es gibt viele solche dramatische Geschichten aus diesen ersten Zeiten. Das ist heute nicht mehr so. Schon seit ich Leiterin des Festivals bin (seit zehn Jahren, Anm. d. A.), spüre ich, dass man dieses Aufregende, «Fremde» eigentlich gerne wiederhaben möchte, diese Dramatik aber nicht wieder hinbekommt. Europa und damit auch Osteuropa ist anders geworden, die Chauffeure stehen nicht mehr quer auf dem Barfüsserplatz, sondern haben ein Navigationssystem und finden den Weg zum Konzertort. All diese «Organisationsunfälle» gibt es nicht mehr, die Chöre, die die Revolution im Baltikum erlebt haben und dann hierherkamen, um zu singen, aufgewühlt, weinend, eben noch für ihre Freiheit singend – das sind politische Dimensionen, die heute nicht mehr so sind. Heute ist das Festival eine Plattform für leistungswillige und erfolgreiche Kinder- und Jugendchöre.

Hat das Festival an Emotionalität verloren?

Nein, es ist immer noch emotional sehr aufgeladen, für die Chöre wie auch für die Besucher – aber diese Neugier auf das gänzlich Unbekannte – die gibt es so nicht mehr wie früher. Die Chöre haben sich sehr verändert, vor zehn Jahren wurden viele Jugendliche in Uniformen gesteckt und von ihren Chorleitern regelrecht gedrillt. Das ist heute viel weniger der Fall. Heute trägt man verschiedenfarbige T-Shirts und gibt nicht mehr so viel Geld aus für steife Uniformen.

Ist ein anderer Umgang mit Chorwerken feststellbar?

Die Stilbreite hat enorm zugenommen, Choreografie war gar kein Thema früher, heute schon. Dies spaltet das Publikum: Ich bin der Meinung, bei kleineren Kindern ist es normaler, wenn sie ein bisschen «rumhampeln», als wenn sie still stehen. Zum Beispiel der Kinderchor aus Portugal versucht zeitgenössische Musik mit ausgefeilten Bewegungen zu visualisieren – das hilft, die Musik zu verstehen und ist eine Bereicherung. Wenn aber mit wilden Bewegungen von der Musik abgelenkt werden soll, sollte man besser noch etwas üben (lacht).

Sie wählen die Chöre nach musikalischer Qualität und auch nach der Performance aus. Wird die Inszenierung zunehmend wichtiger?

Auch hier ist eine Vielfalt vorhanden, für einige Chöre ist es richtig ruhig zu stehen und zu singen, für andere nicht. Allgemein kann man sagen, dass das Singen boomt. Vor zehn Jahren schämten sich Jugendliche eher, wenn sie in einem Chor sangen. Heute ist das überhaupt nicht mehr so.

Chormusik und Chorsingen hatten einen «altbackenen Touch», ein verstaubtes Image…

Genau. Da ist heute anders. Für diesen Wandel sind unter anderem auch die Gymnasiums-Chöre verantwortlich, die das Chorsingen unter Jugendlichen wieder populärer machen. Basel ist eine Hochburg von Kinder- und Jugendchören. Vielleicht auch dank dem Jugendchorfestival. Das ist aber nicht überall in der Schweiz so.

Müssen die auftretenden Chöre folkloristische Musik im Repertoire haben?

Das ist ein schwieriges Thema. Vor 20 Jahren wollte man andere Kulturen kennenlernen. Das ist auch heute noch so, wir sagen, singt Musik aus eurem eigenen Kulturkreis! Aber wo fängt dieser an, wo hört er auf? Wenn ein Araber 20 Jahre in Finnland lebt und dort komponiert, mischt sich seine Kultur mit der finnischen Kultur. Eine Mischung aus beiden Kulturen ist dann das Ergebnis. Ich finde es immer noch wertvoll, wenn lokale Musik gesungen wird. Das heisst dann eben jene «neue» Musik, die durch das Völkergemisch entsteht. Der eigene Kulturkreis wird bei uns lokal definiert und nicht nach Ethnie. Spannend ist auch die Wertverschiebung, die sich im Verlauf der Zeit zeigt. Was früher gelebte Volkskultur war, ist heute oft Folklore und bedient den Patriotismus. Solche Entwicklungen beobachten wir aufmerksam.

Das Ziel des Festivals ist auch die Förderung des Kontakts unter Jugendlichen und der interkulturelle Austausch. Warum bietet sich Chormusik Ihrer Meinung nach dafür an?

Es sind gesellige und kommunikative Leute, die in einem Chor singen. Sie wollen sich mit der eigenen Stimme ausdrücken, was etwas sehr Intimes ist, und wollen das in Gesellschaft tun, wo die eigene Individualität ein bisschen zurückstellt werden muss. Neben dem schönen Gesang ist die Begegnung das eigentliche Geheimnis des Festivals und auch so im Konzept
verankert. Wir sind das einzige Festival, das alle Teilnehmer in ca. 250 Familien Gastfamilien unterbringt.

Sind das Familien mit Kindern, die ebenfalls in Chören singen oder eher interessierte Freiwillige?

Wir arbeiten mit Institutionen zusammen wie Musikschulen, Kirchgemeinden oder Chören, diese suchen die Familien. Das gibt uns die Sicherheit, dass das alles klappt. Obwohl sich auch dieses Vorgehen etwas auflöst. Dieses Jahr hatten wir zum ersten Mal zu viele Gastfamilien. Viele Gastfamilien haben eigene Kinder, die singen. Oft melden sich aber auch Eltern von Kindern, die bereits ausgezogen sind und es geniessen, wenn in ihrem leer stehenden Zimmer für fünf Tage wieder etwas Leben einkehrt.

Dort finden die Jugendlichen sich in das alltägliche Leben der Gastfamilie ein. Müssen die Familien sprachliche Voraussetzungen erfüllen?

Heute nicht mehr. Viele der Singenden sprechen Englisch. Das war vor 20 Jahren ganz anders. Da hatte man dann einen russischen Jungen, der kein Wort Deutsch oder Englisch sprach. Wir geben den Familien aber auch heute noch Listen mit den wichtigsten übersetzten Sätzen als Hilfe mit.

Gastland dieses Jahr ist Kuba. Die Insel kennt man ja musikalisch eher durch Salsa und Son und «Buena Vista Social Club». Was ist das charakteristische an kubanischer Chormusik?

Die Leute in Kuba sind durch und durch musikalisch. Es gibt zum Beispiel ganze «Son-Vocal»-Orchester. Das ist eine Strömung, die in den 1980er Jahren entstand. Auch Boleros oder Nueva Trova (kubanischer «Singer-Songwriter»-Stil) werden oft für mehrere Stimmen harmonisiert. Es gibt viele junge Komponisten, die für Chöre schreiben. Speziell ist in Kuba, dass das man die verschiedenen Einflüsse, also die afro-kubanischen, die europäischen, aber auch die amerikanischen sehr leicht heraus hört. Das macht die Musik sehr abwechslungsreich. Was gesungen wird, stammt in der Regel aus dem 21./20. Jahrhundert.

Konnten die Jugendlichen problemlos ausreisen?

Sie waren so schlau, dass sie mehr Pässe beantragt haben, als sie brauchten. Sechs von ihnen haben aber keine Ausreisebewilligung bekommen. Für sie ist das schlimm, weil die Reise nach Europa doch eine einmalige Gelegenheit gewesen wäre.

Die Schweizer Jugend tut sich eher schwer mit traditioneller «Schweizer Musik» wie etwa Jodel, Ländler oder Volksmusik, mit der eigenen musikalischen Identität. Würden Sie Chormusik als eine Art «vergessene musikalische Tradition» der Schweiz bezeichnen? Die im Speziellen für Jugendliche funktioniert?

Der Vermittler sagt natürlich: liebe Kinder, ihr müsst die lokalen Komponisten kennen! Diese sind davon nicht immer begeistert, aber sie lernen dabei viel. Ich denke, in den letzten zehn Jahren hat man sich auch in der Schweiz wieder mit den eigenen musikalischen Wurzeln versöhnt. Heute singt auch eine Knabenkantorei «Vo Luzern gäg Wäggis zue» und das nicht ungern. Im Zuge der Wurzelsuche wird es wieder einfacher, sich darauf zu besinnen.

Eine musikalische Globalisierung hat stattgefunden?

Auf jeden Fall.

Gut ist das für Schweizer Komponisten, die sonst eher stiefmütterlich behandelt worden sind.

Das stimmt, aber Englisch muss es bei den Schweizer Chören immer noch oft sein, und wenn schon in Deutsch gesungen wird, dann oft lieber in Dialekt als auf Hochdeutsch.

Ist die Vermittlung von Schweizer Chormusik schwierig?

Ja, das liegt daran, dass wir in der Schweiz keine grossen Chorverlage haben. Für unsere Komponisten ist das ein Problem, damit werden ihre Werke nicht über die Landesgrenzen hinaus bekannt. Darum haben wir jetzt beim Galakonzert «Swiss Composer meet Europe» fünf Verlage eingeladen, von denen wir hoffen, dass diese den einen oder anderen Schweizer Komponisten in ihr Programm aufnehmen.

Das Jugendchor Festival findet vom 16. Mai bis zum 20. Mai statt. Das vollständige Programm ist unter www.ejcf.ch abrufbar.

 

 

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