Vampire, Psychopathen, Superhelden und Geister: Das Neuchâtel International Fantastic Film Festival fördert ominös-obskure Abgründe zutage. Ausgerechnet am Freitag wurde die 13. Ausgabe lanciert.
Kaum ist er endlich da, der Sommer, schon sehnt sich der Mensch wieder nach Abkühlung. Was tun? Man könnte in ein Gewässer eintauchen. Oder sich ins kalte Wasser stürzen, indem man sich in klimatisierten Räume neue Filme anschaut. Dieser Tage lässt sich beides kombinieren: Am Freitag wurde die 13. Ausgabe des NIFFF lanciert. Sehe die Zeichen! Das Neuchâtel International Fantastic Film Festival macht das Obskure zum Programm und lockt damit gegen 30’000 Fans des Genrekinos an den Neuenburger See.
Das sollte man sich mal anschauen, haben wir uns gesagt. Und tauchten übers Wochenende ein, in die kleine aber feine Festivalatmosphäre, auf der Suche nach fantastischem Frösteln und schauderhaftem Vergnügen. Diese Erwartungen erfüllt bereits der Eröffnungsfilm: «Stoker» markiert das Hollywood-Debüt des koreanischen Regisseurs Park-Chan-wook, ist wunderbar fotografiert von Chung-hoon Chung, detailreich ausgestattet, stilvoll ästhetisiert. Und besticht durch eine Dramaturgie, die zunehmend anzieht und den Zuschauer in eine dunkle Familiengeschichte hineinzieht.
Schöne Bilder, starker Thriller
Kurz vor ihrem 18. Geburtstag kommt India Stokers Vater bei einem Autounfall ums Leben. An der Beerdigung taucht ihr Onkel Charlie auf (horcht, horcht, Hitchcock-Fans!) und nistet sich im imposanten Landhaus seines verstorbenen Bruders ein. Ganz zur tröstlichen Freude der vereinsamten Witwe (Nicole Kidman, deren straffes Gesicht uns zwar runzeln lässt, aber zu einer reichen Witwe zwischen Contenance und Verzweiflung durchaus passt). Und ganz zur Irritation seiner Nichte (ganz bestechend, ganz famos: Mia Wasikowska). Beide Frauen fühlen sich von Charlie (David Alford) angezogen, diesem Mann, der einem Modekatalog für Golf-Spieler entsprungen zu sein scheint. Er ist charmant, erkennt die Witwe. Er ist seltsam, merkt die Tochter. Ein Stalker, dieser Stoker, merken bald alle. Ein Psycho, der bei India einen Trigger auslöst, ihre Lust aktiviert, ihr Laster auch. Das Unheil nimmt seinen Lauf und wir schauen ihm gebannt zu …
Man darf hoffen dass «Stoker», dieser starke Thriller mit «fesselnder» Erotik auch den Weg in die Schweizer Kinos schaffen wird. Immerhin steht mit Warner Bros. ein grosses Studio hinter dieser Produktion der Gebrüder Scott. Die meisten Filme aber, die am NIFFF gezeigt werden, sind nur im Rahmen dieses Festivals auf Grossleinwand zu sehen. Das ist der Fluch der Nische. Doch mit kleinem Budget und schrägem Setting wird hin und wieder auch ein grosser Erfolge verbucht – weil ein unabhängiger Filmemacher seine Idee konsequent und kompromisslos umsetzen konnte. So wie dies Vincenzo Natali – mehr über ihn später – Ende der 90er-Jahre mit «Cube» gelang, einem Sci-Fi-Thriller, der in unzähligen Studenten-WGs abgespult wurde und ausserhalb der Kinosäle die Runde machte und machte und machte…
Faszination VHS
Den Sprung von der kammercineastischen Indieproduktion zum globalen Kultfilm, den man einmal im Leben gesehen haben muss, hat auch eine technologische Entwicklung möglich gemacht: die VHS-Kassette, die die Verbreitung ankurbelte und damit auch «die Demokratisierung der Filmwelt», wie ein Sammler in «Rewind This!» erzählt. Dieser neue amerikanische Dokfilm ist selber ein Sammelsurium – und bestätigt den Festivalbesuchern in Neuchâtel, was sie als Genrefans ohnehin wissen: Dass ein grosses Budget und ein grosser Verleih nicht das Mass aller Dinge sind. Manche Horrorklassiker haben sich via VHS in unsere Gehirnwindungen geschlichen: «Nightmare On Elmstreet». «Poltergeist». Oder «Brain Dead». Dass diese «Demokratisierung» auch unglaublich viel Trash zutage gefördert hat, wird im Dokumentarfilm nicht verschwiegen. Ein grausames Beispiel für die Schattenseite des VHS-Siegeszugs gefällig? Kein Problem! (Aber Obacht, nichts für schwache Nerven!)
Von der technologischen Entwicklung profitieren auch hierzulande Filmschaffende, die im Low-Budget-Bereich arbeiten müssen, aber grösser hinaus wollen. So wie der Neuenburger Olivier Beguin, der – erstmals in der Geschichte des NIFFF – einen Schweizer Film im internationalen Wettbewerb präsentieren kann. In «Chimères» begleitet er ein junges Liebespaar in die Ferien nach Rumänien. Trunken vor Lebensfreude, trunken vor Schnaps, wird ihre Beziehung nach einem Unfall und einer Bluttransfusion folgenreich gefoltert: Alexandre verwandelt sich in einen Vampir. Seine Livia steht vor einem Rätsel (spinnt der Bub?), dann vor der Verzweiflung (lieb ich genug?) und schliesslich vor der Entscheidung (wie weit gehe ich der Liebe zuliebe?).
Der Westschweizer Filmemacher gewinnt der Vampirthematik durch das vordergründige Liebesdrama eine ansprechende Facette ab. Doch ist die Handlung mitunter zähflüssiger als das Blut und die Schnitttechnik zeitweise spannungsarm. Das wiederum sehen wir ihm aber bald nach – denn der direkte Vergleich mit internationalen Genrebeiträgen rückt seinen Beitrag noch am selben Wochenende in ein besseres Licht.
So relativiert etwa ein Besuch der Retrospektive, die dem amerikanischen Ehrengast Larry Cohen gewidmet ist, die Schönheitsfehler von «Chimères». Dem US-Drehbuchautor und Regisseur ist mit «Hell Up in Harlem» (1973) jedenfalls kein zeitloser Knaller gelungen. Sein Blaxploitation-Film, als Kultwerk angepriesen, kommt bei weitem nicht an Genre-Knaller wie «Cleopatra Jones» (mit Tamara Dobson) oder «Coffy» (mit Pam Grier) heran. Lediglich der Soundtrack von Edwin Starr vermag uns im Kino Bio (die flauschigsten Sitze Neuchâtels!) spätabends noch wachzuhalten.
Hirnrissiger Horror
Es geht noch schlimmer, denn je länger die Nacht, umso geringer die Aufmerksamkeitsspanne. Gerade an einem Filmfestival, das die Sinne mit Übersinnlichem beansprucht. Wäre «Gallowwalkers» mit Galgenhumor ausgestattet, hätten wir wenigstens lachen können. Aber was da nach Mitternacht in einer Kirche gezeigt wird, ist leider nur höllisch schlecht. Das Publikum gibt sich geduldig, im Wissen, dass Regisseur Andrew Goth mit Wesley Snipes einen Star im Cast und Sergio Leones Weste(r)n im Hinterkopf hat. Aber bald wird klar: Das reicht noch lange nicht, um aus einer hirnrissigen Handlung einen mitreissenden Film zu gestalten. 17 Millionen soll «Gallowwalkers» gekostet haben. Nicht auszudenken, was diese US-Dollars bewirkt hätten, wären sie dem Schweizer Filmschaffen gespendet worden. Kopflos wie viele seiner skalpierten Figuren mäandert der Film auf ein Finale zu, das wir uns schliesslich getrost schenken. Statt für untote Revolverhelden entscheiden wir uns für ein Rencontre mit der grünen Fee. Man ist ja schliesslich in deren Heimatkanton.
Prompt erscheint uns am nächsten Tag ein Geist. Zwei. Drei. Nein, weit mehr sind es, so viele, dass uns fast ein bisschen schwindlig wird: «Haunter» heisst der Film, Abigail Breslin die Hauptdarstellerin. Die «Little Miss Sunshine» ist heute 17 und hat nach ihrem Oscar u.a. in der Teeniekomödie «Zombieland» Untote bekämpft – in ihrem neuesten Film ist sie selber gefangen in einer Zwischenwelt.
Und täglich grüsst der Geist in Dir!
Umgeben von ihrer Familie erlebt die Gothrock-Teenagerin Lisa den immer gleichen Sonntag. Hiess es bei Bill Murray im unvergesslichen «Groundhog Day» noch «Und täglich grüsst das Murmeltier», so steht «Haunter» für: Und täglich grüsst der Geist in Dir! Lisa merkt: Da stimmt was nicht. Und sieht bald mal ein Zweitgesicht.
Doch wer spukt hier, sie oder die andere? Lisa schwant Fürchterliches, denn sie kommt nicht nur nicht mehr aus dem Haus raus, sondern fällt tiefer und tiefer in Zeit und Räume, bis ihr grausige Funde klarmachen, dass nicht einmal sie selber noch ist, was sie zu sein glaubte.
Vincenzo Natali, ja genau, der mit «Cube» bekannt wurde, hat einen effektreichen und effektiven Geisterthriller kreiert, dessen Ebenen und Logiken zwar ein bisschen zu konstruiert und verschachtelt sind (und im Endeffekt auch nicht ganz nachvollziehbar), aber mehrfach Hühnerhaut erzeugt. Das kommt uns ganz gelegen, scheint die Klimaanlage im Cinéma Arcades – wie alle Säle innert fünf Minuten vom Festivalzentrum aus zu erreichen – den Geist aufzugeben. Was will man da mehr als kühle Schauer bei 30 Grad? Noch mehr solcher Filme!
Weshalb wir unseren Aufenthalt in Neuchâtel am liebsten verlängert hätten. Zumal uns die Liebeserklärung, die SRF-Filmkritiker Michael Sennhauser kürzlich verfasst hat, darin bestärkt, dass man hier die ganze Woche über mit fantastisch-fantasiereichen Augenblicken rechnen kann. Aber hey, sechs Filme an zwei Tagen, das ist immerhin ein Anfang. Wer die Fortsetzung selber schreiben möchte, hat ausreichend Gelegenheit dazu: Insgesamt 100 Filme werden am NIFFF gezeigt, viele feiern Europapremiere. Darunter auch verschroben-lustige wie der japanische Film «HK: Forbidden Super Hero». Eine Manga-Adaption mit schlüpfrigem Superhelden, verrät uns das Programmheft. Denn HK streift sich zur Maskierung jeweils ein Höschen übers Gesicht. Na, wenn das Catwoman wüsste!
- Das NIFFF dauert noch bis zum 13. Juli 2013. Der oder die Sieger des Internationalen Wettbewerbs erhalten nicht nur 10’000 Franken sondern auch eine Ehrung durch einen fantasiereichen Schweizer: «Narcisse», die Trophäe, wurde von H.R. Giger gestaltet.