Die Musikszene Brasiliens ist geprägt von einer enormen Stil- und Rhythmenvielfalt. Wir werfen Schlaglichter auf vier wichtige Persönlichkeiten.
Im Jahr der Fussball-WM präsentiert sich die Musikszene Brasiliens so vielfältig wie nie zuvor. Rio de Janeiro und São Paulo sind schon lange nicht mehr die alleinigen Kreativzentren eines Landes, das vom Amazonas bis zur Pampa einen enormen Kosmos an Stil- und Rhythmenvielfalt in sich birgt. Dieses Klanguniversum in verschiedene Trends zu bündeln, ist kaum möglich, aber mit knalliger Clubkultur, sozialkritischem Rap, Alternative-Sounds und dem lyrischen Pop der Singer/Songwriter lassen sich einige Hauptströmungen ausmachen, die nicht so ganz in das klischierte Bild hineinpassen, das die Fifa uns musikalisch mit den derzeitigen WM-Songs vermitteln will. Vier Beispiele.
1. Die «Beyoncé vom Amazonas»
Wir beginnen ganz im Norden: Gaby Amarantos stammt aus der Metropole Belém im Bundesstaat Pará, tiefstes Amazonasgebiet. Wer die WM verfolgt, sieht sie derzeit im artig adretten gelben Blazer die Hymne «Todo Mundo» singen, ein Werbesong eines Softdrinkherstellers. Doch Amarantos‘ wahres Wesen ist anderer Natur. Auf ihrem Album «Treme» lässt sie ihren Brüsten Laserstrahlen entfleuchen, die kräftig durch den Dschungel leuchten. Ein schönes Sinnbild, denn sie hat die Partymusik der Jugend, den Tecno Brega, in ganz Brasilien in die Charts katapultiert.
Ursprünglich war es ein Genre, in dem traditionelle Rhythmen der Indios mit Billig-Synthesizern und Samples clubtauglich gemacht wurden. Amarantos hat die trashige Plastikmusik auf ein handwerklicheres Niveau gebracht, ihre Band bedient echte Instrumente, integriert auch Reggaetón, Merengue oder Calypso. Das oft gehörte Attribut «Beyoncé vom Amazonas» passt auf die Wuchtbrumme nur begrenzt. Mit ihren extravaganten Kostümen und ihrem frechen Charisma ist sie eher eine rustikale Kriegerin des Undergrounds.
→ Weiterhören: Wie sich Tanzmusik vom Amazonas vor 40 Jahren anhörte, offenbaren Mestre Cupijó & Seu Ritmo.
2. Das Sprachrohr der Protestgeneration
Rap steht im Jahre 2014 ganz oben auf der Liste der wichtigen Genres. Eine neue Generation kritischer Hip-Hop-Poeten hat sich etabliert – denkbar weit entfernt von Gangsta Rap und Bling-Bling. Wichtigstes Sprachrohr dieser Bewegung ist derzeit Leandro Roque de Oliveira, kurz Emicida. Der stimmgewaltige Mann aus São Paulo, der immer wieder als der «Jay-Z Brasiliens» gepriesen wird, hebt sich durch vieles ab vom herkömmlichen Bild eines MC.
Aufgewachsen mit Einflüssen von Public Enemy über den Wu Tang Clan bis zu den brasilianischen Hip-Hop-Pionieren Racionais MCs, ist Emicida aus dem Untergrund über erste Rap Battles mit Freunden bis zu nationaler Berühmtheit emporgeklettert. Er gilt heute als der treffsicherste und scharfzüngigste Rapper des Landes. Seine Rhymes sind stets politisch und philosophisch, spiegeln die aktuellen sozialen Kämpfe in Brasilien wider, setzen sich für die Rechte der Landlosen ein und schleudern scharfe Pfeile gegen Ungleichheit und Rassismus.
Emicida hat seinen eisernen Willen, mit Kreativität gegen die Mächtigen zu bestehen, in seinem grössten Hit «Triunfo» eindrücklich formuliert. Doch im Gegensatz zu manch anderem Rapper ist seine Musik nicht nur Transportmittel für die Texte. Der 29-Jährig setzt eine Vielfalt an Rhythmen in seinen Songs ein: Samba, Forró und Maracatú grüssen als Fundament, und neben den geschmeidigen, groovenden Sprechgesängen gibt es immer wieder Platz für eingängige Melodien. Zudem sind Emicidas Videoclips kleine Kunstwerke, von erschütternden Sozialstudien in den Favelas bis zum Blaxploitation-Imitat. Ein neuer Typ Hip-Hop für das Brasilien der Zukunft.
→ Weiterhören im Rap: Criolo, das lyrische Pendant zu Emicida, und Karol Conká aus Curitiba, die die Männerdomäne des Genres aufbricht.
3. Afropunk mit Orixá-Anrufungen
Wer die Singer/Songwriter und Bands der zweiten Reihe in Brasilien kennenlernen will, der ist bei den Veröffentlichungen des Labels Mais Um Discos gut beraten. Metá Metá sind hier zweifelsohne der spannendste Act im Moment. Das Quintett Metá Metá aus São Paulo hat sogar ein neues Genre aus der Taufe gehoben: Afropunk heisst die spannungsgeladene Kombination, die die Rituale der afrobrasilianischen Candomblé-Religion in einen völlig neuen Kontext stellt.
Im Zentrum steht die charismatische Stimme von Juçara Marçal, die ihre Gesänge aus den Anrufungen an die Orixá-Gottheiten entwickelt. Thiago Franças wilde Saxophon-Eskapaden und die ungewöhnlichen, perkussiven E-Gitarreneffekte von Kiko Dinucci ranken sich um die Gesangslinien. Um dem Trio einen noch grösseren Energieschub zu geben, kommen auf der Bühne Bass und Drums dazu. Das Resultat ist so ungewöhnlich wie atemberaubend: Irgendwo zwischen psychedelischem Samba, dem kosmischen Jazz à la Coltrane oder Sun Ra und den anarchischen Punksounds von Sonic Youth prasseln diese Klänge auf den Hörer nieder. Metá Metá malen ein raues, ungeschöntes Abbild des urbanen Chaos von São Paulo, das archaische Traditionen und experimentelle Moderne unter einen Hut bringt. Thiago França kommentiert den Metá-Metá-Sound so: «Wir sind die Frucht der Dritten Welt, des Unperfekten, der Besorgnis und des Unbehagens.»
→ Weiterhören: In eine ähnliche Alternative-Richtung gehen andere Mais-Um-Discos-Künstler, z.B. Graveola und Lucas Santtana.
4. Honigstimme mit Biss
Als der Urvater der brasilianischen Popmusik, Caetano Veloso, sie zum ersten Mal hörte, sprach er von einem «Jungen mit der Stimme einer Prinzessin». Ihre Alben sind mit Platin dekoriert, in Italien hatte sie einen Nummer-eins-Hit. Maria Gadú ist seit 2009 das grösste Popphänomen Brasiliens und absurderweise in den deutschsprachigen Ländern so gut wie unbekannt.
Die quirlige 27-Jährige hat trotz ihres immensen Erfolgs nicht die Ausstrahlung einer Diva, sondern die eines übermütigen Tomboys, dem die Welt gehört. Schon mit zehn Jahren schrieb sie ihren späteren Hit «Shimbalaiê», in Europa ging sie durch die harte Schule der Strassenmusikerin, ihre folkloristische Version des Jacques-Brel-Chansons brachte ihr dann schliesslich den Plattenvertrag in Rio. Faszinierend ihre wendige Stimme: Sie scheint aus dunklem Honig zu sein, kann aber auch ganz ruppig werden. Kein Wunder, dass ihre erklärten Vorbilder zum einen Alanis Morissette, zum anderen die zerbrechliche Sängerin Marisa Monte sind.
Gadú lebt offen ihre Homosexualität, möchte sich aber nicht einfach in eine Reihe stellen lassen mit den starken, sexuell ambivalenten Frauen der brasilianischen Musikgeschichte. Das ehrfürchtige Staunen über die Schönheit der Welt, die Melancholie unerfüllter Liebe findet man in ihren Texten häufiger als betonte Emanzipation. Clever pflegt sie dabei eine organische Verschmelzung von Stilen: Immer wieder paart sie einen Maracatú- oder einen Baião-Rhythmus mit Ohrwurmmelodien, lässt Funk mit Afrobrasilianischem kollidieren, versucht sich sogar an einem portugiesischen Fado.
Auch wenn viele ihre Lieder sehr eingängig scheinen, ab und an verpackt sie auch Metaphern der Sozialkritik darin. Ihr Kommentar zur aktuellen Protestgeneration ist eher ernüchternd. «Das Fatale in der brasilianischen Gesellschaft ist: Man wehrt sich, geht auf die Strasse, um gegen Ungleichheit zu protestieren. Aber gleichzeitig will man auch feiern – und so kommen wir nicht weiter in der Lösung der Probleme.»
→ Weiterhören im Songwriter-Pop der jungen Generation: Dani Black, Tulipa Ruiz .
Neben dem traditionsreichen Enthusiasmus für den Fussball an sich ist es genau dieser von Gadú geschilderte Zwiespalt in der Mentalität der Brasilianer, der keine eindeutige Haltung gegen oder für die WM unter den Künstlern erkennen lässt. Nicht nur Gaby Amarantos, auch Emicida singt anlässlich des sportlichen Grossereignisses eine patriotische Hymne auf den Fussball, unterstützt durch keinen geringeren als Ballkünstler Neymar. Allerdings tut er das aus der Sicht der Strasse und der Armenviertel. Man könnte es auf diesen Nenner bringen: Protest und Party – aber Favela statt Fifa.
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Brasilien im Fokus: Die TagesWoche widmet sich die kommenden Tage dem Gastgeber der Weltmeisterschaft 2014 – eine Übersicht der Artikel liefert das Dossier zum Thema.
– Gaby Amarantos: «Treme» (Som Livre)
– Mestre Cupijó & Seu Ritmo: «Siriá» (Analog Africa)
– Emicida: «O Glorioso Retorno De Quem Nunca Esteve Aqui» (Laboratório Fantásma)
– Criolo: «Nó Na Orelha» (Oloko Records)
– Karol Conká: «Batuk Freak» (Mr.Bongo)
– Metá Metá: «MetaL MetaL» (Mais Um Discos)
- Graveola: «Eu Preciso De Um Liquificador» (Mais Um Discos)
– Maria Gadú: «Maria Gadú» / «Mais Uma Página» (Universal)
– Dani Black: «Dani Black» (Slap)
– Tulipa Ruiz: «Tudo Tanto» (Natura Musical)