Gemeinsam einsam: Stephan Thoss trifft einen wunden Punkt in der Gesellschaft

Zum Auftakt des neuen Stücks «Die Liebe kann tanzen» erklärt der Choreograph Stephan Thoss, was er an Ballett liebt und warum die Tänzer nur in der Gruppe fliegen können.

«Stellt Euch vor, es gibt eine Website www.nicht-allein-weihnachten.de, da kann man jemanden mieten, um nicht alleine zu sein», sagt Stephan Thoss zu seinen Tänzern. (Bild: Ismael Lorenzo)

Zum Auftakt des neuen Stücks «Die Liebe kann tanzen» erklärt der Choreograph Stephan Thoss seine Arbeit und warum die Tänzer nur in der Gruppe fliegen können.

Stephan Thoss ist ein Dichter. Sein Text im Programmheft zu seiner neuesten Arbeit am Theater Basel liest sich wie eine kunstvolle Inszenierung von Wortkombinationen und Sinngestaltungen. Er giesst seine Gedanken formvollendet in Satzmelodien – und bleibt dabei inhaltlich ausgesprochen lebensnah.

Sein Hauptberuf ist aber: Choreograph. In der schweigenden Bewegungswelt entkommt er der Flüchtigkeit des Wortes, verführt den Körper mit Musik, um uns von sich zu erzählen. So schreibt er.

Bei unserer Begegnung im Theatercafé eine Stunde vor der Premiere redet er wie ein Wasserfall. Er ist Feuer und Flamme für sein Thema, die Liebe, die tanzen kann. Nervös? «Nein, gar nicht, jetzt ist ja alles im Kasten», lacht er. «Vor einer Woche noch, da hätte viel schief gehen können. Aber jetzt weiss ich: Bühne, Kostüme, Musik und Bewegungen. Alle Puzzleteile passen zusammen.»

Es geht um das Du und Ich – um das wir

Die Liebe also – wie kommt man denn auf solch ein Sujet, das das «Lieblingskind der Bühne» ist, wie er schreibt? «Ich wusste, dass meine Produktion kurz vor Weihnachten Premiere haben sollte. Dem Fest, an dem alle zusammenkommen. An dem die Familienbande pflegen und leben muss, wie man es sonst das ganze Jahr über nicht schafft. An Weihnachten ist Familie ein Muss.»

Ein glückliches Muss für ihn, den stolzen Vater einer vierzehnjährigen Tochter, der überwältigt von seiner Vaterliebe spricht: «Da wird etwas in uns gepflanzt, das wir gar nicht beschreiben können. So stark ist das!»

Um das Ich und das Du dreht sich denn auch seine neueste Choreographie: um das Wir. Um das Verschmelzen mit der Gruppe. Das Aufgehen in der Gruppe. Das Verlorengehen in der Gruppe. Das Rebellieren in der Gruppe. Das Verlassen der Gruppe. Um das Eigenständig- und Einsamsein.

Ein Schwarm im ersten Bild

«Heute muss jeder flexibel sein», sagt Thoss. «Man fragt sich: Kann ich mir Kinder leisten? Oder stören sie die Karriere, die Selbstentfaltung, das Leben? Familie nicht als Aufwertung, nicht als Bereicherung, sondern als Störfaktor zu begreifen, das ist die eigentlich die tragische Entwicklung in unserer Gegenwart.»

Eine solche Entwicklung zeichnet seine Choreographie nach. Das erste Bild zeigt eine grosse, in verschiedenen Grauschattierungen gekleidete Gruppe mit organischen Bewegungen. Ein Schwarm, den es mal hierhin, mal dahin zieht.

Alle stützen und tragen einander, alle geben und empfangen Impulse. Doch was, wenn aus dem funktionierenden Gesamtgebilde ein Rädchen ausschert, weil es sich nicht entfalten kann? Wenn immer mehr Teile der Gruppe sich eingeengt fühlen, sich frei schlagen? Die Gruppe zerfällt.

In der Gruppe kann man fliegen

«Das lässt sich tänzerisch gut darstellen», erklärt Thoss im Gespräch. «Tänzer profitieren von der Kraft der Gruppe. Sie wissen, wie es sich anfühlt, von drei Mittänzern in die Luft geworfen zu werden.» Ja, als Teil einer Gruppe kann man fliegen. Und allein? «Wenn du frei sein willst, weil du vorgezogen hast, dich selbst ins Zentrum zu setzen, dann hast du niemanden mehr, der dich mit Impulsen inspiriert. Und der dich auffängt, wenn du fällst.»

Entscheidungsunfähigkeit nennt Thoss das auch. «Der Mensch hat heute immer so ein Google-Suchfenster im Kopf: Es könnte noch was Besseres kommen, etwas, das mein Leben wirklich aufwertet. Dafür muss ich offen sein, flexibel.» Wenn es denn eintritt, das Bessere.

Auf der tiefschwarzen Bühne, beleuchtet nur von silbern strahlenden, überdimensionierten, leeren Bilderrahmen – solchen für Familien- und solchen für Passbilder – kämpfen die Tänzer in schnellen, zackigen Bewegungen um den Zusammenhalt der Gruppe. Aber die Kraft derer, die raus wollen, ist stärker. Die Gruppe zerfällt. Jeder ist mit sich allein. Aus den grau gekleideten Rädchen im Zahnrad werden bunte Individuen. Individuen auf der Suche nach Glück.

Narzissmus ist ein wichtiges Stichwort für Thoss, auch er lässt sich wunderbar auf die Bühne bringen: Schwarze Schattentänzer spiegeln die Bewegungen der neu entfalteten Individuen. «So ein Schatten ist ein reibungsloser Partner: Er ist immer für mich da», sagt Thoss. «Und wenn ich ihn nicht mehr haben will, kann ich einfach das Licht ausschalten.»

Facebook durch drei blaue Frauen dargestellt

Nähe und Distanz, beides ist in Beziehungen wichtig, sagt Thoss. Beides fehlt, wenn man gar keine Beziehungen hat. Und wenn die Beziehung zu sich selbst nicht trägt, verkommt der «Duft der Einsamkeit» zu einer «Stillen Leere», wie Thoss die einzelnen Szenen seines Balletts nennt.

Wäre da nicht Facebook, dargestellt durch drei blauen Frauen, drei «gesichtslose Freunde von insgesamt tausend, auf die du so stolz bist und die dich eben nicht auffangen, wenn du am Boden liegst», sagt Thoss, der mit seiner Tochter gerade solche Diskussionen führt und ihr die Bedeutung realer, gelebter Beziehungen verdeutlichen will.

«Verliebt in die Freiheit» heisst eine Episode im Ballett. «Der Handel» eine andere. Er meint: Der Handel mit Nähe. «Bei den Proben habe ich den Tänzern erklärt: Stellt Euch vor, es gibt eine Website www.nicht-allein-weihnachten.de, da kann man jemanden mieten, um nicht alleine zu sein. Und jetzt gibt es das wirklich», ruft Thoss, erstaunt, dass seine kühnsten Zukunftsvisionen von der Gegenwart eingeholt wurden.

Vielleicht trifft Thoss mit seiner Jetztzeitanalyse ja nicht nur einen jahresendzeitlichen, sondern einen generellen, wunden Punkt in unserem menschlichen Miteinander.

Gespür für passende Musik

Tänzerisch ist «Der Handel» jedenfalls höchste Kunst. An der Premiere tanzt der gross gewachsene Frank Fannar Pederson mit der zarten Debora Maiques Marin einen solchen gemieteten Weihnachtsabend, das Zucken der ausgehungerten Körper, das Sehnen nach dem vertraglich nicht erlaubten Körperkontakt, das Biegen umeinander, das Werfen voneinander. All das zu Thomas Larchers «Böse Zellen», Musik, die schlägt und zerfetzt und das Paar voller Wucht hin und her schleudert – grossartig.

Überhaupt bildet die Musik an diesem Abend einen ungemein wichtigen Bezugspunkt zum Bühnengeschehen. Mit grossem Gespür für musikalische Abläufe und Assoziationsebenen hat Thoss Werke von Arvo Pärt, Valentin Silvestrov, Ezio Bosso und immer wieder Johann Sebastian Bach ausgewählt.

Bachs wuseliges Cembalokonzert für den familiären Freudentanz zu Beginn. Bachs «Musikalisches Opfer» für das Entgleiten der Gruppenidentität. Pärts «Collage über B-A-C-H» als Ich-Suche. Bachs «Kunst der Fuge» als Stationen im Beziehungsgeflecht. Und Bach als Neuanfang in der Orchestrierung von Anton Webern.

Der Traum von Liebe und Glück wird wahr

Viel Applaus – für das sehr stimmungsvoll aufspielende Sinfonieorchester Basel unter der Leitung von Timothy Henty, aber vor allem für das agile Ballettensemble, voller Individuen, die ihre Körper so lautstark sprechen lassen in dieser schweigsamen Kunst.

Viele Bravos – vielleicht, weil diese permanent fliessende Bilderfolge einen unweigerlich in seinen Bann zieht. Vielleicht, weil dieser nicht stillstehen wollende Bewegungsreigen geradezu herausfordert, sich selbst und das eigene Beziehungsgeflecht zu reflektieren. Und vielleicht aus Dankbarkeit für das versöhnliche Ende, das den romantischen Traum vom Glück der Liebe und der Freude über die Familienbande wieder wahr werden lässt. Zumindest auf der Bühne.

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«Die Liebe kann tanzen», Theater Basel. 20., 26., 28.12., bis 1.3.2015.

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