Vor 65 Jahren veröffentlichte George Orwell seinen letzten Roman – und seinen bekanntesten: Orwell und «1984» wurden zu Chiffren für den totalitären Überwachungsstaat.
Big Brother Is Watching You – was in den letzten zehn Jahren zur Etikette einer Reality-Show banalisiert wurde, die sich erfolgreich stetig rezykliert, verkündete vor 65 Jahren eine beklemmende Dystopie. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, als der Kalte Krieg bereits Fahrt aufgenommen hatte, schrieb George Orwell «1984», einen der langlebigsten politischen Romane, dessen düsteres Zukunftsszenario auch 30 Jahre nach 1984 aktuell gehalten wird: die Beseitigung der individuellen Freiheit zugunsten des totalitären Überwachungsstaates.
Orwells Roman spielt im Superstaat Ozeanien, einer von drei Weltmächten, in dem eine kleine Elite die überwiegende Bevölkerungsmehrheit – die «Proles» – beherrscht und ausbeutet. Anhand einer Liebesgeschichte, die im Verbotenen beginnt und in ihrer Niederwerfung durch das System endet, erläutert Orwell die zentralen Selbsterhaltungstechniken Ozeaniens: neben der totalen Überwachung mittels versteckter Mikrofone und allseits präsenten Teleschirmen steht Ozeanien in einem vereinbarten Dauerkriegszustand mit den anderen Supermächten Ostasien und Eurasien, um die Entrechtung der Bevölkerungsmehrheit aufrechtzuerhalten, sie auf ein kollektives Ziel einzuschwören und die Verschleuderung der Ressourcen (anstelle ihrer Verwendung zur Steigerung des allgemeinen Lebensstandards) zu legitimieren.
Die totale Kontrolle erschöpft sich nicht in der Überwachung, sondern greift tief in das Denk- und Wahrnehmungsvermögen der Bevölkerung ein: Die Sprache wird als «Newspeak» umgeformt, um ihr Bedeutungsspektrum zu verringern und somit die Kommunikation der Bevölkerung besser zu lenken, die Methodik des «Doublethink» korrumpiert das menschliche Urteilsvermögen und verwischt die Grenze zwischen propagandistischer Lüge und logischer Wahrheit, und die Geschichte wird zugunsten der Staatsdoktrin umgeformt, ihr nicht entsprechende Ereignisse und Personen spurlos gelöscht.
Konsequenter Geschichtsrevisionismus
Nicht zuletzt diese Technik des konsequenten Geschichtsrevisionismus beförderte nach der Publikation von «1984» die These, Orwell habe mit seinem Roman den Totalitarismus der Sowjetunion offen gelegt. Tatsächlich begann Orwell die Arbeit an «1984» unter dem Eindruck des Spanischen Bürgerkriegs, der Etablierung des Faschismus, sowie der Dreimächtekonferenz von Potsdam 1945, als England, die USA und die Sowjetunion die Weltordnung für die Nachkriegszeit skizzierten.
Die totalitären Staatsformen des Faschismus und des Sowjetkommunismus, die zu Orwells Lebzeiten die Menschen in Ketten legten, sind 65 Jahre nach der Erstpublikation des Romans grösstenteils verschwunden. Geblieben ist die Bedrohung der totalen Kontrolle, wofür «1984» weiterhin die populärste Chiffre darstellt: die geistige Zerstreuung der Bevölkerung durch eine massive Unterhaltungsindustrie, die Aushöhlung der Grundrechte zugunsten einer präventiven Verbrechensbekämpfung – und die umfassende Überwachung, begünstigt durch die globale Vernetzung der Kommunikationskanäle. NSA lässt grüssen: «1984» war keine politische Anklage, sondern eine Warnung.
«1984» war nicht der einzige Roman Orwells (geboren als Eric Arthur Blair), der den Totalitarismus thematisierte: vier Jahre zuvor entwickelte er mit «Animal Farm» die Skizze einer Umsturzgesellschaft, die sich von Befreiern zu einer Gewaltherrschaft wandelte. Aufgewachsen als Sohn eines britischen Kolonialbeamten, erhielt Orwell früh Einblick in die Mechanik unterdrückender Gesellschaftssysteme. Als junger Mann arbeitete er bei der Kolonialpolizei, quittierte jedoch seine Stelle unter Protest gegen die Kolonialpolitik, verarmte und endete beinahe als Obdachloser, der sich nur mittels Schreibaufträgen über Wasser halten konnte.
Seine Teilnahme am Spanischen Bürgerkrieg auf der Seite der Republikaner verarbeitete er in «Mein Katalonien», und während des Zweiten Weltkriegs arbeitete er als Kriegsberichterstatter, wodurch er die Propagandaarbeit der beteiligten Mächte kennenlernte. 1948, bereits durch Lungenprobleme gezeichnet, zog sich Orwell auf eine verlassene Insel vor der schottischen Küste zurück, um an seinem letzten Romanprojekt zu arbeiten – und wies Freunde an, das Manuskript zu vernichten, sollte er es nicht mehr zu Ende bringen können. Die Kräfte reichten: Am 8. Juni 1949 erschien «1984», ein halbes Jahr später starb Orwell in London an Tuberkulose. Er wurde 46 Jahre alt.