Der Niederländer Colin Benders riss mit seinem 26-köpfigen Kyteman Orchestra im Burghof Lörrach so ziemlich alle Stilgrenzen der Musikgeschichte nieder – und inszenierte eine atemberaubende HipHop-Pop-Oper.
Cimbasso heisst das obskure Blechgebilde, dass auf der Bühne die ganze Aufmerksamkeit auf sich zieht. Eine Kontrabass-Ventilposaune, auf der Patrick Votrian ein markerschütterndes Dröhnen erzeugt. Doch um ihn herum stehen ja noch weitere 25 Musiker. Das Dröhnen bricht ab, ein Schrei ertönt, und wie ein Peitschenhieb knallt ein Tutti aus Kehlen, Trichtern, Tasten, Saiten und Fellen auf die Zuhörer. Man denkt an «O Fortuna» aus Carl Orffs «Carmina Burana», ins Unermessliche gesteigert. Einige zarter besaitete Seelen weichen instinktiv vom Bühnenrand zurück.
Besser kann man einen Einstieg kaum inszenieren. Colin Benders alias Kyteman hat ein untrügliches Gespür für Dramaturgie, und er ist auch ein bisschen grössenwahnsinnig. Der 26-jährige Utrechter Trompeter, Multiinstrumentalist, Komponist und Neffe des Jazzpianisten Jacky Terrasson versammelt in seinem Kyteman Orchestra HipHopper, Jazzer, klassische Musiker und Opernsänger, und er stemmt mit ihnen die gewaltige Aufgabe, all diese Stile in eine schlüssige Suite zu giessen.
Was sich auf CD noch ein wenig abstrakt anhört, wird an seinem Stimmen-Konzert auf der Bühne des Lörracher Burghofs zum atemberaubenden Erlebnis – auch wenn leider nur wenige, umso begeistertere Zuhörer aller Altersklassen gekommen sind.
Der Dirigent als Ausdruckstänzer
Da bildet gleich jede Instrumentengruppe einen eigenen Bezirk: Vier Blechbläser agieren als Antipoden zum Streichquartett auf der anderen Bühnenseite. Mittig ist das Reich der Tasteninstrumente vom Klavier bis zum Moog platziert, dahinter E-Bass und Percussion inklusive Pauken und Tamtam, in abschliessender Reihe, auf den Zinnen dieser gewaltigen Architektur, schimmert noch ein Chor aus dem Halbdunkel. Und ganz vorne der schmächtige Benders, dessen Dirigat eher ein Ausdruckstanz ist: Tempiwechsel steuert er mit dem ganzen Körper, zappelt wie in einer Urschrei-Therapie, dann wieder deutet er musikalische Veränderungen wie mit delikaten Qi Gong-Bewegungen an.
Und auch sonst ist in diesem «Orchester» einiges anders: Einen Dresscode gibt es nicht, vom Anzug bis zum Muscleshirt sieht man hier alles, der Bassist darf sein grünes Hemd tragen, der Trompeter sein afrikanisches Daishiki.
Der verbale Herzschlag dieses Orchesters, das sind die vier Frontmänner, die allein schon durch ihre unterschiedliche Physiognomie ein Blickfang sind und in «Truth Or Dare» erstmals im Rampenlicht stehen: Der schwarze, glatzköpfige Kevin de Randamie setzt markante Rap-Akzente, der kleine Ahmed Mimouni gibt sich in «Long Lost Friend» eher empfindsam. Wütende Verse auf Französisch sind die Spezialität von Ben Hartman («On S’en Fout»). Und schliesslich der unumstrittene Star Hein Bal alias Pax, ein Schlacks mit Bart und Schiebermütze, der in seinem Paradestück «Angry» auch mal voller Pathos aus der Bruststimme schöpft.
Sicher, die Texte sind manchmal etwas überladen und konstruiert, sie handeln von den Seelennöten der «angry young men», immer wieder wird hier mit Dämonen gekämpft, wird über die Mächtigen und die Gleichgültigkeit der Welt verzweifelt, Lichtjahre ist das entfernt von der Gossensprache eines Bushido. Die Vocals sind eingebettet in einen grandiosen Wall Of Sound: Funky agiert die Bläsertruppe, begibt sich auch mal auf Balkan-Terrain, die Streicher liefern zusammen mit dem Chor ein stechendes Stakkato über den marschierenden Drums, dazu zündet der blondmähnige Niels Broos grandiose Moog-Linien.
Aus dem Moment heraus
Es funktioniert viel über Flächigkeit in diesen monströsen Stücken, über simples Wechseln zwischen zwei Akkorden, übers Wiederholen von einfachen melodischen Figuren – doch die immense Besetzung verlangt halt nach einer bündelnden Kraft. Trotzdem ist die Show alles andere als blosser Bombast: Immer wieder wird die Dynamik heruntergekühlt auf magische Instrumentals: In «Day One» erwächst aus einem Dialog von Vibraphon (Frank Wienk) und Cello (Jonas Pap) ein weihevolles Hörnergebirge, Hollywoodsoundtracks lassen grüssen.
«The Void» ist ein zierlicher Minimal-Tanz auf den Tasten, begleitet durch Streicherromantik. Und in der «Ballad» liefert Benders selbst fast böhmische Töne auf seiner Trompete, nachdem er zuvor auf seinem Instrument schon als astreiner Jazzimprovisateur geglänzt hatte.
Vieles hat Benders auskomponiert, doch einen Notenständer sucht man vergeblich auf der Bühne. Das Kyteman Orchestra agiert nicht aus der Notation, sondern aus dem Moment, atmet wie ein grosser Körper. Und so ist es auch erklärbar, dass die Musiker an diesem Abend zwei Stücke aus dem Nichts schöpfen, lediglich über kleine Zeichen und kurze Verständigungen bauen sie am Ende einen Jam, an dem auch Hugh Masekela seinen Spass gehabt hätte.
Man mag über diese Materialschlacht schmunzeln, über dieses nicht mehr zeitgemässe Bewegen von Lasten wie in den Rockshows der Siebziger. Man kann aber auch sagen: Dies ist die denkbar weiteste Entfernung von den vermeintlichen Segnungen der virtuellen Musikwelt, ein neues Zelebrieren von Handwerk und Haptik, vom körperlichen Musizieren im Hier und Jetzt. Und das von ausnahmslos jungen Künstlern.
Nicht das Stimmen-Konzert, aber ein Konzert aus dem Jahr 2012 kann man hier sehen: